Einer unabhängigen Untersuchung zufolge konnte der Rassist Anders Behring Breivik, der vor einem Jahr in Norwegen 77 Menschen tötete, nach dem Zünden einer Autobombe noch drei Stunden unbehelligt seiner Wege gehen. Und das, obwohl die Polizei Augenzeugenberichte erhalten hatte, in denen von einem bewaffneten Mann mit Schutzausrüstung die Rede war.
Breivik nutzte diese Zeit, um mit dem Auto zur Insel Utøya zu fahren – währenddessen er zwei Polizeistreifen passierte –, dort in ein Boot zu steigen, in dem mehrere Sturmgewehre bereit lagen und anschließend 69 Kinder und Jugendliche zu erschießen.
Suchte die Polizei nach einem anderen Typ von Mörder? Oder ging sie nicht von einem terroristischen Anschlag aus, der normalerweise automatisch eine ganze Reihe von Alarmen und Straßenblockaden im ganzen Land nach sich zieht?
Auch wenn Massenmorden immer ein Wahn zugrunde liegt, werden weiße Rassisten nur allzu oft zu psychopathischen Einzelgängern erklärt, während andere sofort als Teil organisierter ideologischer Netzwerke wahrgenommen werden. Nachdem ein weiterer weißer Rassist vor gut einer Woche in Wisconsin ein Massaker an Angehörigen der Sikh verübt hatte, wurde in der Presse wenig Aufmerksamkeit auf die Analogien zwischen diesem offenbar „sinnlosen Morden“ und dem jüngsten Bombenanschlag auf eine Moschee in Missouri verschwendet.
Nur noch ein Einziger
Bei einem „nicht-weißen“ Täter und vorwiegend „weißen“ Opfern wäre im Fernsehen über das in seiner Religion angelegte Gewaltpotenzial diskutiert worden, während „moderate Muslime“ sich und ihre „Community“ von ihm distanziert hätten.
Stattdessen wurden Vermutungen geäußert, der Täter Wade Page habe die Sikh irrtümlicherweise und zu Unrecht angegriffen (weil er sie für Moslems hielt), und belanglose Debatten über „Sikhismus“ geführt. Während die bei Schwarzen und Moslems herrschende Wut im Westen von weiten Teilen der Bevölkerung als problematische Pathologie unserer Zeit angesehen wird, die daher auch von vorn bis hinten soziologisch, religiös, politisch und sogar ökonomisch durch analysiert werden muss, wird die von Weißen zum Ausdruck gebrachte Wut routinemäßig als Randphänomen und individuelle Pathologie abgetan, die nur von Interesse ist, wenn gerade einmal wieder Blut vergossen wurde. Obwohl rechte Rassisten damit drohen, es gebe „da draußen Tausende weiterer wütender weißer Männer wie Page“, wurde dem ehemaligen Analysten der US-Heimatschutzbehörde, Daryl Johnson, zufolge, ein ausführlicher Bericht über rechten Terror 2009 im Kongress wütend zurückgewiesen. Man reduzierte die Zahl der Analysten zur Einschätzung der Sicherheitslage, die für nicht-islamistischen Terror im Inland zuständig sind, auf nur noch einen einzigen.
Dass rassistischer weißer Terror derart heruntergespielt wird, während anderen Formen religiöser und nationalistischer Militanz größte Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, hängt damit zusammen, wie „Whiteness“ selbst funktioniert.
Kapitalistische Imperative
Soziologen weisen darauf hin, dass Whiteness und die ihr historisch zugewachsenen Privilegien in Europa und Nordamerika davon abhängen, dass sie nicht wahrgenommen wird. Als Weißer Privilegien zu genießen, beruht geradezu darauf, dass die Hautfarbe keine Rolle spielt oder herausgestellt wird – anders als etwa bei „schwarzen Athleten“, „asiatischen Unternehmern“ oder dem Passagier eines Flugzeugs, der einer „ethnischen Minderheit“ angehört.
Whiteness ist nicht wissenschaftlicher oder natürlicher als irgend ein anderer rassistischer Begriff und umfasst ebenso viele Facetten. Dennoch kommt ihr eine große Wirksamkeit zu. Der Begriff hat sich mit der Zeit ausgeweitet und umfasste ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr nur Menschen angelsächsischen und nordischen Ursprungs, sondern auch Iren und Italiener. Historiker wie David Roediger und Noel Ignatiev haben gezeigt, dass die Frage, ob jemand als weiß kategorisiert wurde, oft mit kapitalistischen Imperativen wie einem anti-gewerkschaftlichen Vorgehen oder der Unterteilung der Arbeiter zusammenhing. Dass ökonomischer Wohnstand noch immer auf Vorstellungen von Whiteness beruht, wird an negativen Zuschreibungen wie „White Trash“ an weiße Angehörige der Unterschicht deutlich: Dadurch, dass es gesagt wird bzw. gesagt werden muss, wird der implizite Widerspruch deutlich – jemand gehört der Unterschicht an, obwohl er weiß ist.
Wozu verurteilen wir uns?
Auch wenn nicht alle weißen Rassisten arm sind, so generiert eine auf brutaler sozialer Ungleichheit basierender und diese reproduzierende Wirtschaftsordnung doch permanent die Wut der unteren Klassen, die von interessierter Seite dazu ermutigt werden, diese manchmal mörderische Wut an Ausländern, Moslems, Schwulen, Schwarzen, Juden und Einwanderern auszulassen.
Ist es angesichts der anhaltenden militärischen Konflikte, bei denen immer wieder davon die Rede ist oder suggeriert wird, der „zivilisierte Westen“ kämpfe gegen das „barbarische Andere“, reiner Zufall, dass Page ein Ex-Soldat war, der nach seinem Ausscheiden aus der Armee wie viele Veteranen auf einen Arbeitsmarkt geworfen wurde, die weder Arbeit noch Aussicht auf Arbeit zu bieten hatte?
Kein Mörder repräsentiert eine ganze gesellschaftliche Gruppe. Aber alle Mörder – egal, welche Psychopathen sie sind – handeln in einem Kontext, ob dieser aus Verelendung, Rassismus, Militarisierung, der Verbreitung von Waffenbesitz oder dem Mangel an psychischer Gesundheitsvorsorge besteht. Diese gesellschaftlichen Realitäten auf eine individuelle Psychopathologie zu reduzieren, verurteilt uns alle dazu, im Dunkeln zu tappen.
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