Weniger Schröder wagen

Gelbwesten Emanuel Macron hat die Steuern für die Reichen gesenkt, aber die Sparpolitik in Frankreich beibehalten. Jetzt weicht er teilweise von seiner Linie ab
Der Protest der Gelbwesten zeigt Wirkung
Der Protest der Gelbwesten zeigt Wirkung

Foto: Zakaria Abdelkafi/AFP/Getty Images

Randale in den Straßen. Tankstellen, denen das Benzin ausgeht. Panikkäufe in den Supermärkten. Ein Land im Chaos. Das ist keine dystopische Vision von Großbritannien nach dem Brexit, sondern Frankreich im Hier und Jetzt unter der Führung des selbststilisierten Verfechters des Anti-Populismus, Emmanuel Macron.

Französische Politiker berufen sich regelmäßig darauf, von Charles de Gaulle inspiriert zu sein. Macron ist da keine Ausnahme. Sein offizielles Präsidenten-Foto zeigt ihn vor einem Schreibtisch, auf dem eine geöffnete Ausgabe von de Gaulles Kriegsmemoiren liegt. Macrons Botschaft an das französische Volk war offensichtlich: Wie de Gaulle werde er ein starker politischer Anführer sein. Wie de Gaulle werde er sich über kleinliche Politik erheben und im nationalen Interesse regieren.

Tatsächlich wurden in den vergangenen Tagen Vergleiche zu de Gaulle gezogen. Allerdings waren es nicht Vergleiche mit dem de Gaulle, der 1940 eine französische Exil-Regierung in London errichtete oder dem de Gaulle, der 1958 die durch den Algerienkrieg geschlagenen Wunden heilte. Angesichts der Gelbwesten-Proteste in ganz Frankreich wird stattdessen an die Eroberung der Straßen von Paris durch Studierende und Arbeiter im Mai 1968 erinnert.

Macron verliert sein Alleinstellungsmerkmal

Wie de Gaulle hat Macron die Straßenproteste nicht kommen sehen. Wie de Gaulle schien er den Bezug zur Lage der Bevölkerungsmehrheit verloren zu haben und nicht zu einer adäquaten Reaktion fähig zu sein. Und wie de Gaulle wird er einen hohen politischen Preis dafür zahlen. Macron hatte mit dem Alleinstellungsmerkmal für sich geworben, dass er niemals Protestierenden nachgeben werde, wenn sie auf die Straße gehen.

In seiner Ansprache vom Montagabend zeigte er dann Verständnis für die Proteste und kündigte an, den Mindestlohn um 100 Euro pro Monat anzuheben sowie die kürzlich erhöhte Steuer für Menschen mit einer Rente von weniger als 2.000 Euro zurückzunehmen. Zuvor hatte er bereits die Erhöhung der Steuern auf Benzin und Diesel für sechs Monate ausgesetzt. Damit hat er das zuvor kategorisch Ausgeschlossene getan: Er hat nachgegeben.

Welch eine Ironie, dass der Mann, der als Antwort auf den Populismus gesehen wurde, die stärkste Demonstration populistischer Wut provoziert hat, die Europa bisher erlebt hat. Als er im Élysée-Palast ankam, wurde Macron als eine ganz neue Art Politiker bejubelt. Dabei ist er eher ein Vertreter der Vergangenheit, nicht der Zukunft: der letzte technokratische Mittepolitiker in der Tradition von Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder.

Angela Merkels Vorgänger im deutschen Kanzleramt war das echte Vorbild von Macron. Denn es war Schröder, der Anfang der 2000er Jahre den Arbeitsmarkt und den Sozialstaat umkrempelte, um Europas größte Wirtschaft im Sinne der Unternehmer wettbewerbsfähiger zu machen. Diese „Reformen“ funktionierten, aber eben nur nach einem ganz bestimmten Muster. Deutschland hat statistisch gesehen eine niedrige Arbeitslosigkeit und einen hohen Exportüberschuss. Das liegt aber nur daran, dass die deutschen Arbeitnehmer Lohn- und Gehaltskürzungen und eine verringerte Kaufkraft akzeptieren mussten.

Die Gegenreaktion auf Macrons Kurs war nur eine Frage der Zeit

Macron dachte, das Rezept wäre in dieser Form auf Frankreich übertragbar. Obwohl er Marine Le Pen bei der Präsidentschafts-Stichwahl mit großem Vorsprung hinter sich ließ, war die Unterstützung für ihn allerdings schon immer eher schwach. Frankreich wählt seinen Präsidenten in einem Zweistufensystem: Nach dem ersten Wahlgang mit mehreren Kandidaten und Kandidatinnen gehen die zwei mit den meisten Stimmen in die Stichwahl. Man sagt, Frankreich wähle im ersten Wahlgang und schließe dann in der zweiten Runde aus. Von den französischen Wählerinnen und Wählern, die in der ersten Runde abstimmten, entschied sich nur knapp ein Viertel für Macron.

Dennoch dachte der neue Präsident, er hätte ein starkes Mandat für strukturelle „Reformen“. Er senkte die Steuern für die Reichen, erleichterte es den Unternehmen, je nach Bedarf Arbeitnehmer einzustellen und zu entlassen, und er nahm es mit den Eisenbahnergewerkschaften auf. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gegenreaktion begann.

Die französische Wirtschaft hat Schwierigkeiten, mit der deutschen Wirtschaft mitzuhalten. Sie hat nur sehr beschränkte Möglichkeiten, die Nachfrage anzuregen, weil die Zinssätze von der Europäischen Zentralbank festgesetzt werden und die Fiskalpolitik – also Steuern und öffentliche Ausgaben – durch die Haushaltsdefizit-Bestimmungen der Euro-Zone beschränkt ist. Frankreich hat die Idee des Euros unterstützt, weil es glaubte, eine gemeinsame Währung werde die Macht Deutschlands schwächen.

Stattdessen ist das Gegenteil passiert: Deutschland ist zur dominanten Macht in der Euro-Zone und in der weiteren EU geworden. Der Euro funktioniert für die deutschen Exporteure – aber für alle anderen funktioniert er nicht wirklich. Frankreich hat einen Fehler historischen Ausmaßes begangen, als es dem Euro beitrat. Seither versucht es, diesen Fehler wieder auszubügeln.

„Wenn das Volk kein Brot hat, dann soll es doch Kuchen essen“

Als Macron sich in seiner Anfangszeit als Präsident noch in einer Schonfritst befand, schlug er vor, die Währungsunion durch die Schaffung eines gemeinsamen Haushalts der Eurozone zu stärken. Berlin – das wusste er – würde nur unter der Voraussetzung zustimmen, dass Deutschland seine Beziehungen zu Frankreich als Partnerschaft unter Gleichen betrachtete. Und das war zuvor viele Jahre lang nicht der Fall. Der Weg, sich Respekt zu verschaffen, führte darüber, die französische Wirtschaft derselben harten Disziplin zu unterwerfen, die sie die Deutschen unter Schröder erduldet haben. Das passte zu Macrons innenpolitischer Agenda, die vor allem darauf abzielte, ein unternehmensfreundliches Umfeld zu schaffen und die Machtbalance am Arbeitsplatz von der Arbeit hin zum Kapital zu verschieben.

Die Politik muss erkennen, dass die Finanzkrise und ein Jahrzehnt stagnierenden Lebensstandards die Grenzen des politisch Machbaren verschoben haben. Es ist machbar – und wünschenswert –, das Mittel der Steuerpolitik zu nutzen, um den Klimawandel anzugehen. Die Voraussetzung dafür ist, dass die daraus resultierende Einschränkung des Lebensstandards vieler Menschen in voller Höhe durch die Senkung anderer Steuern ausgeglichen wird.

Andernfalls handelt es sich dabei nur um einen weiteren Baustein jener Sparpolitik, die die Wähler überall ablehnen. Für Macron ist es politisch selbstmörderisch, als Präsident der Reichen zu gelten und dann wegen der Erhöhung der Benzinpreise wütenden Wählern zu sagen, sie sollten doch stattdessen Car-Sharing oder die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Das klingt nicht nach Charles de Gaulle. Es klingt nach Marie Antoinette und deren berühmtem Spruch: „Wenn das Volk kein Brot hat, dann soll es doch Kuchen essen.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Larry Elliott | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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