Großbritannien Die Finanzaffäre im Unterhaus zeigt, wie weit sich die Demokratie von den Bürgern entfernt hat. Aber ist der Skandal auch ein Zeichen für die Schwäche des Systems?
Wenn die Wut über Parlamentarier in London derzeit größer ist als die Empörung über Banker, die um ein Haar das ganze System zum Einsturz gebracht hätten, woran liegt das? Vermutlich hängt es damit zusammen, dass man von Parlamentariern erwartet, für unsere Steuergelder Sorge zu tragen, während einem die astronomischen Summen, mit denen Banker hantieren, ohnehin unfassbar bleiben. Um wie viel einfacher ist es doch, die über Abgeordneten-Spesen erfolgte Rückerstattung für Badewannen-Stöpsel, Toilettendeckel und Hundefutter zu verdammen (für das Schneiden von Hecken gilt dies um so mehr), als zu begreifen, welche unvorstellbaren Geldsummen die Spekulanten verloren haben.
Obwohl die zynische Meinung, dass die da oben sowieso
en sowieso alle unter einer Decke stecken, bestimmt so alt ist wie der Parlamentarismus, resultiert daraus bis heute stets eine mehr oder weniger philosophische Resignation, die in den Satz mündet: Es lohnt nicht, sich allzu sehr über den unverbesserlichen Egoismus des politischen Establishments aufzuregen.Garanten für Werte, die längst aus der Mode sindAndererseits wissen wir sehr genau, dass es den meisten Abgeordneten nicht vorrangig darum geht, sich persönlich zu bereichern. Sie arbeiten hart für ihre Wähler und verändern zuweilen unser Leben. Sie erlassen Gesetze, an die sich jedermann zu halten hat. Da war es schon erstaunlich, gerade bei der BBC zu hören, die Mitglieder des britischen Unterhauses fühlten sich – besondere in den Medien – nicht richtig dargestellt. Dabei dürften es mit Sicherheit die Wähler sein, die sich nicht richtig repräsentiert fühlen. Wen oder was vertreten diejenigen, die im House of Commons sitzen? Wer erkennt sich in der Raffgier derer wieder, denen man nun auf die Schliche gekommen ist?Wir betrachten Parlamentarier – schon weil das unser Wertekanon verlangt – als Garanaten von „Pflichterfüllung“ und „Gewissenhaftigkeit“, auch wenn diese Werte in der Gesellschaft längst aus der Mode sind. Die Politiker befinden sich in einer paradoxen Lage: Während man auf der einen Seite von ihnen verlangt, die Interessen ihrer Wähler wahrzunehmen, sollen sie auf der anderen zugleich immer ein wenig über den Dingen stehen und den wechselnden Launen des Augenblicks trotzen.Pflichterfüllung und Altruismus wurden in den letzten Jahren vor allem von den Vertretern des Fortschritts verhöhnt, die solche Tugenden als Mummenschanz eines imperialen Zeitalters und Relikte einer archaischen Kultur abtaten. In einem Britannien der permanenten Modernisierung hätten die nichts zu suchen. Der „Idealismus“ ist dem allgegenwärtigen Ruf nach „Realismus“ gewichen, das „Kollektive“ dem „Individualistischen“. Und „Respektabilität“ hat dem oft missbrauchten „Respekt“ weichen müssen.Auf der Höhe unserer ZeitWir, die wir von der Weisheit der neuen Zeit mit ihrem Zwang zur permanenten Innovation, zu Hypermodernität und Weltläufigkeit geformt sind, haben die menschliche Natur verstanden und durchschaut. Wir sind auf der Höhe unserer Zeit und haben kein Problem, über die „grundsätzliche“ Käuflichkeit des Menschen Bescheid zu wissen und uns damit abzufinden. Wer wollte nicht der Erste sein? Wenn man nicht zusieht, wo man bleibt, wer tut es dann für einen? Eigeninteresse ist unsere grundlegende Antriebskraft.Es ist schon recht sonderbar, dass wir jedes Mal, wenn wir mit Belegen konfrontiert werden, die diese aufgeklärte Weltsicht bestätigen – wie dies derzeit beim Spesenskandal im Unterhaus der Fall ist – unter Beweis stellen, immer noch zu altmodischem Moralisieren fähig zu sein wie irgendein mürrischer Traditionalist, der Werte wie „Gewissenhaftigkeit“ und „Pflichtgefühl“ hoch hält.Dies legt nahe, dass diese Tugenden nicht wirklich ausgedient haben, sondern sich lediglich in einer Art Schwebezustand befinden. Allen zwangsweisen Veränderungen zum Trotz bestimmen die Ideale von Pflicht und Arbeit immer noch hartnäckig unsere Vorstellungswelt. Nicht der missmutige Verdacht, dass ohnehin immer wieder gegen diese moralischen Ideale verstoßen wird, sondern die Tatsache, dass eindeutig gegen sie verstoßen wurde, hat zu der jetzigen Krise geführt. Denn diese Prinzipien sind eben nicht die lachhaften Überbleibsel einer obsolet gewordenen Kultur – viel mehr handelt es sich um bleibende Qualitäten. Sie sind eingebunden in Verhaltens-Codes, die Menschen zu kollektivem Handeln veranlassen.Nur Misstrauen und SpottDa ist es schon sonderbar, dass die Linke den instabilen Zusammenhalt der Marktgesellschaft angenommen und ihre Vorstellungen von Solidarität als ungewollten „ideologischen Ballast“ über Bord geworfen hat. Wer mit so leichtem Gepäck reist, riskiert eine Schwerelosigkeit, die ihn für Stürme anfällig macht, die nun plötzlich aus jeder denkbaren Himmelsrichtung über ihn hereinbrechen können.Die Feindseligkeit gegenüber Politikern, die offenbar alle Maßstäbe verloren, die sie verinnerlicht haben sollten – zeigt sie nicht das Bedürfnis nach Wiederbelebung eines Wertesystems, das von der hyperaktiven Geschäftigkeit unseres Lebens verdunkelt wurde? Insofern ist die öffentliche Entrüstung über die Spesenaffäre kein Anzeichen für die Schwäche der Demokratie. Man kann aus ihr vielmehr den Ruf nach einer Erneuerung herauslesen, die weiter reicht, als das oberflächliche Gerede über Reformen. Ihm liegt der Wunsch zugrunde, einem Trend zu entkommen, der besonders verstörend wirkt, wenn er an Politikern zu beobachten ist. Von ihnen wird mehr erwartet, als lediglich Gepflogenheiten der Allgemeinheit widerzuspiegeln.Die Verachtung von Parlamentariern, die sich rücksichtslos bereichert haben, droht die Art von Demokratie zu gefährden, die diese Politiker hervorbringt. Es ist eine gewisse Zerknirschtheit in den Medien zu bemerken, eine Angst, es könnte schon zu spät sein und ein System, das wir unbedingt auf dem ganzen Erdball einführen wollen, würde als eines wahrgenommen, das schon in seinem Ursprungsland unheilbar korrumpiert ist. Die edlen Worte Demokratie und Freiheit, mit denen wir unsere Überlegenheit gegenüber Militärregimes und Diktaturen zum Ausdruck bringen, könnten genau dort zu hohlen Phrasen verkommen, wo sie erdacht wurden.Anderen Tugenden zu predigen, die man selbst nicht vorweisen kann, hat bei uns eine lange, nicht eben ehrenhafte Tradition. Wenn das Vertrauen in diese Tugenden schon hierzulande schwindet, wie wollen wir da die Frohe Botschaft unseres westlichen Lebensstils einer Welt verkünden, die nur noch Misstrauen und Spott für uns übrig haben kann.
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