Wer hat Angst vor Vater Staat?

Überwachung Die Herren der modernen Spionage haben von den Hexenmeistern des Marketing die Kunst gelernt, menschliches Verhalten vorherzusagen
Harmlose Hardware? Das Facebook-Datencenter in Lulea, Schweden
Harmlose Hardware? Das Facebook-Datencenter in Lulea, Schweden

Foto: Jonathan Nackstrand/ AFP/ Getty Images

Wenn Bürgerrechtler, die mit den Vorschlägen Barack Obamas unzufrieden sind, eine Wunschliste erstellen dürften, wie sie die Befugnisse der NSA gerne einschränkt sähen, könnte sie etwa wie folgt aussehen:

  • Individuelle Kontrolle: das Recht auf Kontrolle darüber, welche persönlichen Daten von Organisationen gesammelt und wie sie verwendet werden.
  • Transparenz: das Recht auf leicht verständliche Information über Privatsphäre und Sicherheitspraktiken.
  • Fokussierte Sammlung: das Recht auf vernünftige Beschränkungen der Menge an persönlichen Daten, die gesammelt und gespeichert werden.
  • Verantwortlichkeit: das Recht auf angemessenen Umgang mit persönlichen Daten, um zu gewährleisten, dass nicht gegen die Grundrechte verstoßen wird.

Dass die Obama-Regierung all diese Rechte vor fast zwei Jahren bereits gebilligt hat, und sogar Google, Microsoft, Yahoo und AOL das Einverständnis abtrotzte, sie zu befolgen, tut dabei nichts zur Sache. Diese Rechte gelten nämlich nur für Web-Browsing-Daten von Unternehmen, die „behavior-based marketing“ anwenden. Sie wissen schon: Die Art von Tracking, die dafür sorgt, dass Ihnen die Seiten von Hochzeitsausstattern angezeigt werden, wenn sie nach „white wedding“ suchen, (obwohl Sie eigentlich das Lied von Billy Idol meinten).

Im Februar 2012 veröffentlichte das Weiße Haus ein Dokument mit einer „Consumer Privacy Bill of Rights“ zum Schutz der Grundrechte der Konsumenten. Sie dürfte umfassender gewesen sein, als diejenige zur Beschränkung der staatlichen Überwachung. In ihr waren die oben genannten Rechte aufgeführt und die amerikanische Bundeshandelskommission FTC wurde mit ihrer Implementierung beauftragt. Die erste konkrete Maßnahme bestand in der Entwicklung eines „Do Not Track“-Standards, der es Verbrauchern ermöglichen soll, die elektronische Überwachung im Netz abzustellen. Die"Consumer Privacy Bill of Rights" erwies sich allerdings schnell als nahezu ebenso unwirksam für die Eindämmung der Datenerhebung wie ihr Vorbild.

Neben all den anderen Informationen, die sie über uns haben, wissen die Unternehmen, die sich zur Einhaltung dieser neuen Verbraucherschutzregeln verpflichtet haben, auch, dass moderne Amerikaner wesentlich mehr Vorbehalte gegenüber Big Shopping haben als gegenüber Big Brother. Selbst mit einer standardisierten „Do Not Track“-Funktion steigt die Zahl der Internetnutzer, die sich dem Tracking verweigern, rapide an. Unter Firefox-Nutzern stieg sie von vier Prozent zu dem Zeitpunkt, zu dem das Regierungspapier veröffentlicht wurde auf fast 12 Prozent ein Jahr später (14 Prozent unter mobilen Nutzern). Im Durchschnitt (aller Browser) liegt die Quote bei acht Prozent. Das mag wenig erscheinen, ist aber genug, um die Vermarkter dazu zu veranlassen, jeden Versuch zu bekämpfen, den Ausstieg noch einfacher zu machen.

Eine verblüffende Zahl von 71 Prozent aller Befragten gab an, „sehr besorgt“ darüber zu sein, dass „Unternehmen sie betreffende Informationen ohne ihre Zustimmung verkaufen oder weitergeben“. Man stelle sich nur vor, diese Menschen wüssten, dass es Mittel und Wege gibt oder geben sollte, dies zu verhindern.

Das steigende Bewusstsein über die Machenschaften der Marketing-Strategen und die zunehmenden Versuche der Nutzer, diesen zu entkommen, dürften wohl mit dazu geführt haben, dass sich das Konsortium aus „Interessenvertretern“ (Medienunternehmen und Datenschützer), welche bis dahin den "Do Not Track"-Standard entwickelte, sich vergangenen Herbst aufzulöste.

Vermarkter und Entwickler gaben selbst bei so scheinbar einfachen Fragen wie danach, wo sich die Abstellfunktion für das Tracking befinden sollte, nicht nach. Datenschützer wollten sie sowohl als Teil der Browsereinstellungen als auch als Bestandteil des Downloading-Prozesses selbst sehen. Entwickler und Vermarkter hingegen wollten sie in den Browsereinstellungen gleich neben der Einstellung der Standardseite anbringen, die wahrscheinlich noch nie jemand verändert hat.

Als Datenschützer dies kritisierten, versuchte ein Anwalt der Digital Advertising Alliance zu beschwichtigen: „Indem man die Abschaltfunktion in die Browsereinstellungen integriert, kann jeder, der sie finden will, dies auch tun … Aber man behandelt sie nicht als Frage der nationalen Sicherheit, den das ist sie nicht.“

Doch, das ist sie. Vergangenen Monat hat die jüngste Veröffentlichung von NSA-Dokumenten gezeigt, dass der Geheimdienst genau die Cookies zur „Konstituierung und Verbesserung“ unserer Online-Erfahrung benutzt, um einzelne User aus dem von ihm angesammelten Meer an Daten herauszufischen und potenzielle Ziele zur „Fernausbeute“ zu kennzeichnen.

Diese Enthüllung offenbart die Ironie des Engagements der Obama-Administration für den Datenschutz der Verbraucher. Sie sollte uns auch darauf aufmerksam machen, wie ähnlich Vermarkter und Regierung über uns denken.

Obama erklärte in seiner Rede, das Programm solle so funktionieren, dass nur eine einzige große Akte auf dem Tisch liege, die die Regierung nur dann öffne, wenn sie von einer konkreten Bedrohung Kenntnis erhält. Die Bürger sollen beruhigt sein, dass die Daten aus einem riesigen unpersönlichen Zahlenblock bestehen. Es sind keine Daten, sondern Metadaten! Doch das Problem mit massenhafter Datensammlung besteht nicht darin, dass diejenigen, die über diese Daten verfügen, etwas über das Privatleben irgend eines Einzelnen herausfinden können, sondern darin, dass sie über so viele Daten verfügen, dass sie gar nichts mehr über irgend einen Einzelnen herausfinden müssen.

Vermarkter haben das schneller begriffen als die Regierung. Sie haben kein kommerzielles Interesse an Ihnen persönlich, sondern an Menschen wie ihnen. Die Datenschutzbestimmungen eines der größten Anbieters von Konsumentendaten (BlueKai) ähneln in vielem dem, was Obama in seiner Rede sagte: Es gibt eine zeitliche Begrenzung, wie lange User getrackt werden und alle Profile bleiben anonym. Des Weiteren gibt es Einschränkungen, welche Daten in den Profilen gespeichert werden dürfen (Daten zu Finanzen, Gesundheit, Geschlecht oder Religion.) Es handelt sich um eine Form von Metadaten.

Dennoch sind ihre Informationen noch immer unglaublich wertvoll, denn die Daten, die sie sammeln und weitergeben, sind nicht dazu gedacht, eine einzelne Person zu verfolgen. Vielmehr sollen sie Vermarktern dabei helfen, eine Gruppe von Menschen zu finden, die dazu überredet werden kann, ein einziges Interesse zu teilen – ihr Produkt.

Gewaltige Datenmengen von Millionen von Menschen ermöglichen es, Nutzer in Kategorien aufzuteilen. Die Vermarkter können dann die Online-Umwelt für die einzelnen Kategorien so zuschneiden, so dass alle entsprechend ihrer zugeordneten Kategorie so stark wie möglich in die Richtung ihres Produkts gedrängt werden. Die Privatsphäre wird von niemandem in dem Sinne verletzt, dass irgendein Geheimnis verraten worden wäre. Nahezu das Gegenteil ist der Fall und trotzdem ist es fast noch schlimmer: Wir werden in einer Weise manipuliert, die uns unserer Individualität und Einzigartigkeit beraubt und unsere Möglichkeit einschränkt, überhaupt erst so etwas wie Geheimnisse zu haben.

Die Meister der modernen Spionage haben von den Meistern des Marketing die Kunst erlernt, menschliches Verhalten vorherzusagen. Einer der Hauptgründe für die massenhafte Datenerhebung besteht in der Suche nach Verhaltensmustern, die auf mögliche terroristische Aktivitäten hindeuten. Wenn aber eine Organisation menschliches Verhalten ausreichend gut voraussagen kann, besteht der nächste Schritt fast zwangsläufig in dem Versuch, sie zu beeinflussen.

Wir müssen unsere Vorstellung davon aktualisieren, wie eine Verwendung großer Datenmengen im Sinne von Orwells 1984 aussehen könnte. Wahrscheinlich müssen wir uns weniger Sorgen darüber machen, dass die Polizei irgendwann mitten in der Nacht bei uns in der Wohnung steht. Das Ganze kann wesentlich perfider ausfallen. Man schränkt uns in unserem Möglichkeiten ein, bremst unsere Ambitionen oder stößt uns höflich weiter in eine Richtung, von der wir glauben, wir hätten sie uns selbst ausgesucht.

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Geschrieben von

Ana Marie Cox | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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