Wer hat die Wahl?

USA Vor dem Urnengang im November streiten sich republikanische Bundesstaaten mit der Regierung Obama über das Wahlrecht. Wirkt undurchsichtig, ist aber ein echtes Problem
Get the vote out: In den USA tobt ein Verfassungsstreit über das Wahlrecht
Get the vote out: In den USA tobt ein Verfassungsstreit über das Wahlrecht

Foto: Mario Tama / Getty Images

Ein halbes Jahrhundert lang sollten Wahlrechtsänderungen in den USA vor allem rassistische Diskriminierung eindämmen. Nun droht der Rollback. Republikanische Regierungen verschiedener US-Bundesstaaten von Florida über Texas bis nach Alaska haben sich in einem undurchsichtigen Paragrafenstreit mit der Regierung in Washington angelegt. Und da bereits mehrere Urteile niederer Instanzen ergangen sind, dürfte der Streit letztlich vor dem US-Verfassungsgericht landen.

Dieses hat bereits angedeutet, dass es den Kern des Voting Right Act von 1965 erneut überprüfen will. Das Gesetz gewährt der US-Regierung eine Art Aufsicht über Staaten, in denen Afroamerikanern früher das Wahlrecht verweigert wurde. Ziel ist es, Minderheiten – vor allem Afroamerikanern – die Chance auf Wahlbeteiligung zu sichern, die früher mit allerlei Tricks beschnitten wurde.

Antrag in Washington

Gestritten wird nicht nur über den Voting Rights Act. Texas und andere Staaten stellen auch die Legitimität von Affirmative Action Programmen für Minderheiten insgesamt infrage. Einige Anwälte befürchten deshalb eine konzertierte Aktion zur Aushöhlung, wenn nicht gar Erledigung von jahrzehntelanger Bürgerrechts-Rechtsprechung.

Bei den Klagen der Einzelstaaten geht es konkret um die sogenannte Section 5 des Voting Rights Act. Demnach dürfen neun Staaten – Alabama, Alaska, Arizona, Georgia, Louisiana, Mississippi, South Carolina, Texas und Virginia – ihr Wahlrecht nur mit Zustimmung des US-Justizministeriums ändern. In sieben weiteren Bundesstaaten sind einige Bezirke ebenfalls an diese Regelung gebunden.

"Es gibt immer mehr Fälle, die darauf abzielen, diese Kernklausel zu schleifen und aus dem Wahlrechtsgesetz herauszureißen“, sagt Debo Adegbile, amtierender Präsident und Chefanwalt der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), der vor dem Verfassungsgericht für die Klausel eintritt. „Ich denke, man kann zu Recht sagen, dass das Verfassungsgericht diese Anfechtungen provoziert hat.“

Hürden auf dem Weg an die Urne

Dahinter steht aber nicht nur Kompetenzgerangel. Es geht beim Streit zwischen Obama und den Staaten um Inhalte. Mehrere Staaten haben ihre Bürger verpflichtet, für die Wahl einen Lichtbild-Ausweis vorzulegen – was für Arme und Minderheiten, also tradionelle Wähler der Demokraten, nicht immer einfach ist. Außerdem wurden Wahlkreise neu zugeschnitten und mit diversen Maßnahmen die in den USA erforderliche Wahlregistrierung begrenzt.

Obamas Justizministerium hat in den vergangenen Wochen mehrfach vor Bundesgerichten juristische Siege errungen. Richter kamen zu dem Schluss, dass die Veränderungen auf rassistische Diskriminierung und Wahlfälschungsversuche hinausliefen. So wurde in der vergangenen Woche das texanische Ansinnen zurückgewiesen, die Wahlkreise neu festzulegen, weil damit ganz offensichtlich der Einfluss der rasch anwachsenden Latino-Bevölkerung eingeschränkt werden sollte. Auch die Identifikation mit einem Lichtbild wurde für unzulässig erklärt, da dies dem Gericht zufolge Angehörige von Minderheiten vom Wahlgang abhalten könnte. In Alabama und Florida ging der Streit ähnlich aus, in South Carolina schwebt er noch. Auch hier hat der Bund gute Aussichten auf Erfolg.

Hoffnung auf den Supreme Court

Die Erfolge könnten sich allerdings als Phyrrus-Siege erweisen. Mehrere Landesregierungen setzen Hoffnung auf das eher konservative Verfassungsgericht – das bereits Zweifel an einer Politik angemeldet hat, die auf ethnischer Zugehörigkeit basiert. Die klagenden Staaten hoffen, das Gericht werde Section 5 kassieren.

Nathaniel Persily, Juraprofessor der Columbia University und Experte zum Thema, hält es nur für eine Frage der Zeit, bis der Supreme Court die Möglichkeiten der Bundesregierung nach dem Voting Rights Act aushebelt. „Es ist nicht die Frage, ob Abschnitt 5 des Wahlrechtsgesetzes gestrichen wird, sondern wann und wie", meint Persily. "Wird es einen langsamen Tod durch Tausende von Streichungen sterben oder mit einem Schlag erledigt werden?“ Das Verfassungsgericht habe bereits 2009 in einem Urteil seine Bereitschaft erklärt, Section 5 für verfassungswidrig zu erklären – auch wenn es damals Voting Rights Act noch einmal bestätigte.

"Der Süden hat sich verändert"

Oberrichter John Roberts hatte Zweifel geäußert, ob Section 5 überleben könne. Der Kongress habe es nicht geschafft, das Gesetz zu aktualisieren, um die von ihm bewirkten Veränderungen Rechnung zu tragen. Das werfe Fragen nach seiner Verfassungsmäßigkeit auf. So gingen heute im Süden der USA zum Beispiel im Verhältnis ebenso viele Schwarze wie Weiße zur Wahl. Roberts sieht es so: „ Der Süden hat sich verändert. Die Absicht von Section 5 konzentriert sich vielleicht nicht mehr in den juristischen Zuständigkeiten, die für eine Zulassung durch Washington ausgewählt wurden. Das Statut basiert auf Daten, die heute mehr als 35 Jahre alt sind und vieles deutet darauf hin, dass es den gegenwärtigen politischen Bedingungen nicht mehr gerecht wird.“ Die Bedeutung der Frage rechtfertige aber kein übereiltes Handeln, meinte Roberts. Das wurde so verstanden, dass er weitere Klagen befürwortet, damit das Verfassungsgericht die Sache in Ruhe abwägen kann.

Die Kommentare des obersten Richters öffneten die Schleusentore. Seit dem Urteil von 2009 hat es mehr Rechtsbehelfe gegen Section 5 gegeben als in den vorigen 44 Jahren seiner Existenz. Texas und Florida haben bereits angekündigt, ihre Fälle vor das Verfassungsgericht zu bringen. Vor zwei Wochen hat Alaska Klage gegen seine Verpflichtungen unter Section 5 eingereicht. Doch als erstes dürfte der Fall des Bezirkes Shelby in Alabama vor das oberste Gericht kommen.

"Das braucht es heute nicht mehr"

Die Justizkosten des Bezirks werden von dem Project on Fair Representation bezahlt, das sich selbst als Rechtshilfe gegen die „Schaffung ethnisch bestimmter Wahlbezirke“ versteht. Sein Direktor Edward Blum ist der Ansicht, Section 5 vergrößere die Befugnisse des Kongresses über das hinaus, was die Verfassung vorsieht und bestrafe Staaten für die Sünden der Vergangenheit: „1965 war Section 5 eine drakonische, aber durch und durch notwendige Klausel, da die meisten Wahlkreise im Süden Schwarzen den Zugang zu den Wahlurnen verwehrten. Heute braucht es keine Section 5 mehr. Sie ist zu einem Mittel der Wahlkreisverschiebung unter ethnischen Aspekten geworden. Afroamerikaner und Latinos leben nicht mehr in Barrios und Ghettos. Im Laufe der vergangenen vierzig Jahre sind die ethnischen Minderheiten aus den amerikanischen Innenstädte in alle Ecken der großen urbanen Gebieten gezogen.“

Adegbile argumentiert ganz anders: Es würden immer mehr Gesetze vom Justizministerium und Gerichten unter Verweis auf Section 5 zurückgewiesen – genau das zeige, dass es weiter gebraucht werde. „Wir erleben überall im Land eine solche Unmenge von gegen Minderheiten gerichteten Maßnahmen, dass Leute überrascht sind, die gedacht hatten, derlei Praktiken gehörten der Vergangenheit an", sagt er. "Ich glaube, auch der Normalbürger versteht, dass es immer noch verschiedene Methoden gibt, mit denen versucht wird, Wahlen zu gewinnen." Eine davon sei, bestimmte Wählerschichten auszuschließen. Den Ausgang des Verfassungsstreits sieht Adegbile auch als Grundsatzentscheidung, wo die USA bei den Bürgerrechten stehen.

Der digitale Freitag

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Chris McGreal | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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