Vor ihrem Rundfunkhaus in London hat die BBC eine Statue für einen ihrer ehemaligen Mitarbeiter, George Orwell, aufgestellt. Der Autor lehnt sich mit der Hand in der Hüfte nach vorne, als wolle er etwas Bedeutsames sagen. An der Wand neben ihm ist ein Zitat aus dem Vorwort von Animal Farm eingemeißelt: „Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“
Das ist ein flotter Slogan, der gut in einen Tweet passt. Aber immer, wenn ich an diesem Bildnis des englischen Schriftstellers, den ich sehr bewundere, vorbeilaufe, bekomme ich eine Gänsehaut. Der Autor von 1984 würde doch sicher verstehen, dass die Leute nicht ständig hören wollen, dass zwei plus zwei gleich fünf ist – oder?
Denn Orwells Zitat ist keine Freiheitsverteidigung, sondern eine Erlaubniseinforderung und hat sich zu einem grundlegenden Slogan für jene entwickelt, die vorsätzlich das eine mit dem anderen verwechseln.
In den letzten zehn Jahren ist das Recht, irre Behauptungen aufzustellen, für reaktionäre Rechte zu dem Thema schlechthin geworden, Tropen wie politische Korrektheit und Moralin wurden konstruiert, um die Grenzen des sozialen Wandels überwachen und sich selbst als Opfer eines organisierten Angriffs auf die Freiheit darstellen zu können.
Ein Safe Space für Privilegierte
Die jüngste Erfindung in diesem Krieg gegen die eigene Verantwortlichkeit ist die „Cancel Culture“, ein schwammiger Begriff, der Bestrebungen von Unternehmen, strukturellen Rassismus anzuerkennen, das Stürzen von Statuen, Mobbing in sozialen Medien, öffentliches Shaming und andere Versuche, den Status quo in Frage zu stellen, umfasst.
Im Harper’s Magazine erschien ein offener Brief, der die „Cancel Culture“ eindeutig anprangert – ohne sie offen anzusprechen –, unterzeichnet von 150 AkademikerInnen und SchriftstellerInnen aus allen Teilen des politischen Spektrums. Die UnterzeichnerInnen beklagten sich über eine Zensur, die die Debatte ersticke, und forderten dazu auf, Auseinandersetzungen durch Argumente statt durch Taten auszutragen. Natürlich wurden auch Lippenbekenntnisse zur Bedrohung durch Personen wie Donald Trump abgegeben, aber im Zentrum des Schreibens schien ein Aufschrei der Verzweiflung einer Gruppe zu stehen, die plötzlich feststellt, dass ihre Ansichten nicht mehr bloß mit Ehrfurcht und Respekt konsumiert wurden.
Viele, die ihren Namen unter den Brief setzten, sind langjährige Größen des Kulturbetriebs, die in der Vergangenheit nur die Missbilligung ihrer AltersgenossInnen hätten fürchten müssen. Nur haben die sozialen Medien diese Seifenblase platzen lassen, und man muss schmerzlich lernen, dass heute jeder mit einem Twitter-Account die eigene Meinung in Frage stellen kann. Der Brief war im Endeffekt also wenig mehr als die Forderung nach einem Safe Space, einem Ort ohne Widerspruch.
Eine der Unterzeichnerinnen, eine Meinungskolumnistin der New York Times, Bari Weiss, hat den Ursprung dieses Unbehagens touchiert, als sie behauptete, dass in den USA ein „Bürgerkrieg“ in Medienhäusern und Unternehmen zwischen „(meist jungen) Woken und (meist 40+) Liberalen“ tobe. Ist es denn wirklich so eine Überraschung festzustellen, dass jüngere Menschen vehement Ansichten vertreten, die denen der älteren Generationen widersprechen?
Ein Kampf zwischen Jung und Alt
Diese Feststellung jedenfalls scheint sich in einer der umstrittensten Fragen der britischen Politik zu bestätigen – dem Brexit. Beim Austritt aus der EU sind die Meinungen weniger nach Klassenzugehörigkeit oder ideologischen Linien geteilt – sondern viel mehr nach dem Alter. Politische Konflikte erscheinen heute zunehmend als ein Kampf zwischen Jung und Alt.
Im Pre-Social-Media-Zeitalter fand die Wut junger Leute ihren Ausdruck häufig in Popkultur. In Print- und Rundfunkmedien fand Jugend kaum statt. Natürlich hat uns der Thatcherismus aufgeregt, aber unsere Möglichkeiten, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen, waren begrenzt. Heute kann ein 22-jähriger Fussballer mit einem Twitter-Account die Regierung in weniger als 48 Stunden zu einer Kehrtwende bewegen. Darnella Frazier, deren Smartphone-Video von vier Polizeibeamten aus Minneapolis, die George Floyd ermordeten, einen globalen Aufschrei auslöste, ist gerade einmal 17 Jahre alt.
Die Möglichkeit von GatekeeperInnen mittleren Alters, die Tagesordnung zu bestimmen, wurde von einer neuen Generation von AktivistInnen usurpiert, die Informationen über ihre eigenen Netzwerke verbreiten und die vom Status quo geförderten Narrative in Frage stellen können. Die großen progressiven Bewegungen des 21. Jahrhunderts sind aus diesen Netzwerken hervorgegangen: Black Lives Matter, #MeToo oder die Klimabewegung. Auch wenn ihre Ziele unterschiedlich zu sein scheinen, so haben sie doch eines gemeinsam: die Forderung nach Rechenschaftspflicht.
Natürlich bleibt die Redefreiheit das grundlegende Fundament einer freien Gesellschaft. Damit aber jeder die Vorteile dieser Freiheit genießen kann, muss sie durch zwei weitere Dimensionen erweitert werden: Augenhöhe und Rechenschaftspflicht. Ohne Augenhöhe werden die Mächtigen ihre Meinungsfreiheit dazu nutzen, andere zu schmähen und zu marginalisieren. Ohne Rechenschaftspflicht wiederum kann die Freiheit zur gefährlichsten aller Freiheiten mutieren – zur Straflosigkeit.
Straflosigkeit ist zu einem Zeichen der Stärke geworden
Wir rümpfen unsere Nasen über autoritäre Gesellschaften, weil deren Anführer ungehemmt handeln, doch gleichzeitig sehen wir in Trump einen Präsidenten, der weder in seinem Privatleben noch in seiner beruflichen und politischen Laufbahn zur Rechenschaft gezogen wurde – und seine WählerInnen feiern ihn dafür. Die AnhängerInnen von Boris Johnson zucken angesichts endloser Beispiele für seine Verantwortungslosigkeit mit den Achseln und konstatieren: „Boris ist eben Boris“. Straflosigkeit, also mit wirklich allem davon zu kommen, ist zu einem Zeichen der Stärke geworden. Genau das konnte man im Gesicht des ehemaligen Polizeibeamten Derek Chauvin sehen, als er sein Knie 8 Minuten und 46 Sekunden lang auf George Floyds Hals drückte.
Als Reaktion auf diese Entwicklung ist eine Generation herangewachsen, die der Rechenschaftspflicht Vorrang vor der absoluten Redefreiheit einräumt. Für diejenigen, deren liberale Ideale sich als nutzlos im Kampf gegen doppelzüngigen Autoritarismus erweisen, mag das ein Schock sein. Wenn jedoch Vernunft, Respekt und Verantwortlichkeit bedroht werden, bietet uns die Rechenschaftspflicht womöglich eine bessere Grundlage für den Aufbau einer solidarischen Gesellschaft, in der alle das Gefühl haben, dass ihre Stimme Gewicht hat.
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