Das Land trägt offiziell den Titel Sozialistische Libysch-Arabische Volks-Jamahiriya oder einfach: Volksrepublik. Doch wird es seit 41 Jahren nicht vom Volk, sondern dem Familienunternehmen des Muammar al Gaddafi regiert, in dem es inzwischen die Söhne des Patriarchen zu Aufstieg und Autorität gebracht haben. Angesichts der schwersten Unruhen seit der Revolution von 1969 handelt der Revolutionsführer so undurchsichtig, wie man es von ihm kennt. Was den Schluss nahelegt, dass er die Macht nicht freiwillig abgeben will. „Wir werden alle auf libyschem Boden sterben“, laute der Vorsatz der Familie, berichtet die saudische Tageszeitung al-Sharq al Awsat, die sich auf Quellen beruft, die über jeden Zweifel erhaben seien. Es soll der in Russland ausgebildete G
ssland ausgebildete Gaddafi-Sohn Khamis sein, der in die vorderste Verteidigungslinie steht. Im ost-libyschen Benghazi führt er das Kommando über Spezialeinheiten, die versucht haben, sich dem Ansturm des Protestes entgegen zu stemmen, damit aber offenbar gescheitert sind.Töten oder getötet werdenVor Wochenfrist, als in Bahrain gerade der Pearl Square geräumt wurde, ließ sich Muammar al-Gaddafi Gaddafi für einen Augenblick im Zentrum von Tripolis sehen und von Anhängern bejubeln. Er verzichtete auf eine öffentliche Erklärung und soll seither die schwer bewachte Bab al-Aziziya-Kaserne nicht mehr verlassen haben. Ein denkwürdiger Ort – im April 1986 war das Gelände Ziel eines Bombardement der US-Luftwaffe.Analysten zufolge ist der Umgang mit den Protesten typisch für Gaddafis instinktive Brutalität, auf die er zurückgreift, wenn seine Herrschaft in Gefahr gerät. In den achtziger Jahren setzte er Geheimkommandos in Marsch, um im Exil „streunende Hunde“ zu ermorden, die sich seiner Revolution verweigerten. In den Neunzigern ging er mit äußerster Härte gegen islamistische Rebellen vor. 1996 wurden bei einem Gefängnis-Aufstand fast 1.000 Häftlinge vom Wachpersonal niedergemetzelt. „Für Gaddafi lautet die Devise, töten oder getötet werden“, meint der oppositionelle Schriftsteller Asshour Shamis. „Und er hat sich für das Töten entschieden.“ Jedenfalls scheinen die Aufstände in den Nachbarländern Gaddafis Willen, an der Macht festzuhalten, nicht erschüttert zu haben. Noch kurz bevor deren Rücktritte unausweichlich wurden, schickte er Solidaritätsadressen an Tunesiens Zine al-Abdine Ben Ali und Ägyptens Hosni Mubarak.Doch die Souveränität des entschlossen handelnden Autokraten täuscht. Schon während der vergangenen Jahrzehnts musste Gaddafi mehr um sein politisches Überleben kämpfen, als ihm lieb war. Konzessionen wurden zum Lebenselixier, man denke an die Übergabe der beiden Lockerbie-Attentäter Abdel Basset Ali el Megrahi und Lamen Chalifa Fhimah im April 1999 oder an den Verzicht auf ein Programm zur Fabrikation von Massenvernichtungswaffen, nachdem Amerikaner und Briten im Frühjahr 2003 in den Irak einmarschiert waren. Niemand sollte ernsthaft erwarten, dass Gaddafi freiwillig abtritt. Vielmehr wird er mit Versprechen nicht geizen: Mehr Wohnungsbau, bessere soziale Dienstleistungen, gesicherte Subventionen für Grundnahrungsmittel. Nach den Gewaltorgien der vergangenen 48 Stunden dürften derlei Ankündigungen die Demonstranten kaum noch zufrieden stellen.„Es dürfte Muammar al Gaddafi schwer fallen, sich mit Zugeständnissen das Überleben zu erkaufen“, gibt sich der frühere britische Botschafter in Tripolis, Sir Richard Dalton, überzeugt. „So wie sich das Regime verhält, handelt es nach der Devise: Alles oder nichts.“ Von einiger Bedeutung dürfte sein, ob die Meinung befreundeter westlicher Staaten einen Einfluss auf den Revolutionsführer hat. Libyens Warnung an die EU, man werde gegebenenfalls die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der „illegalen“ Einwanderung aufkündigen, spricht dagegen.Kein designierter NachfolgerOffiziell ist die politische Macht in Libyen an Volkskomitees übertragen, die sich als Rückgrat der Regierung erweisen könnten. Doch sei vor falschen Erwartungen gewarnt, alle strategischen Bezirke der Macht – Verteidigung, Außenpolitik und nationale Sicherheit – sind bisher fest in den Händen Gaddafis. Wie Hosni Mubarak hat auch der Revolutionsführer keinen designierten Nachfolger. Die besten Aussichten, die Erbschaft anzutreten, wird Sohn Khamis und Sicherheitsberater Muatassim eingeräumt. Vor zwei Jahren unternahm Letzterer den Versuch, eine zweite Spezialeinheit ins Leben zu rufen, die dem von Khamis befehligten Korps Konkurrenz machen sollte.Während der libyschen Staatskrise scheint die Macht dieser beiden potenziellen Nachfolger gegenüber dem reformorientierten Gaddafi-Sohn Saif al-Islam gewachsen zu sein. Der tritt für eine gestärkte Zivilgesellschaft sowie wirtschaftliche Reformen ein, sieht sich aber von der alten Garde in die Schranken gewiesen. Andere Söhne haben den Vater jedoch mehr in Verlegenheit gebracht: Hannibals Fehlverhalten in Genf zum Beispiel sorgte für eine lang anhaltende Störung der schweizerisch-libyschen Beziehungen.„Präsident Gaddafi ist ein kompliziertes Individuum, das sich durch einen geschickten Interessenausgleich und Anflüge von Realpolitik 40 Jahren lang halten konnte“, analysiert Gene Cretz, ehemaliger US-Botschafter in Libyen. Die gegenwärtige Krise aber, das sei wohl die bislang größte Herausforderung für ihn.