Wie viel gelten wir?

Überwachung Die NSA-Affäre zeigt, dass amerikanischen Politikern die Bürger ihres Landes nicht viel wert sind
Wie viel gelten wir?

Foto: PAUL J.RICHARDS/ AFP/ Getty Images

Als die Snowden-Leaks offenbarten, dass Millionen Amerikaner und ihre Metadaten vom Schleppnetz der NSA eingefangen worden waren, duldeten das Weiße Haus und der Großteil des US-Kongresses – allen voran Senatorin Dianne Feinstein – weder Prüfung noch Zweifel am Treiben der Geheimdienste. Die Bürger anderer Nationen wurden behandelt, als hätten sie schlicht kein Recht, sich dem unersättlichen Blick der NSA zu entziehen.

Doch als die deutsche Bundeskanzlerin sich darüber beschwerte, dass ihr Mobiltelefon Berichten zufolge über zehn Jahre lang abgehört wurde, da war der Augenblick gekommen, in dem Barack Obama in Erwägung zog, der NSA Grenzen zu setzen und die Bespitzelung anderer Staatsoberhäupter zu unterbinden. Und auch Merkel hörte fortan auf, eine Politik zu verteidigen, die der NSA Beihilfe leistete und begann, diese in Frage zu stellen. Und es war der Moment, in dem Feinstein endlich einräumte: "Eine vollständige Prüfung aller Geheimdienstprogramme ist notwendig."

Sehen die nicht, was das dem Rest von uns sagt? Dass nämlich Empörung, eine Entschuldigung und Veränderungen nur angebracht sind, wenn Mitglieder ihres eigenen Clubs, ob nun aus dem In- oder Ausland, abgehört werden. Aber alle anderen? Völlig egal. Um den guten Pastor Niemöller zu paraphrasieren: Als sie alle holten, sagte ich nichts, ich war ja keiner von ihnen.

Doch endlich sieht jemand von den Mächtigen irgendwie ein, dass die NSA zu weit gegangen ist. Kann die Debatte nun also beginnen?

Präsident Obama sagte gegenüber dem Nachrichtensender ABC News: "In den zurückliegenden Jahren wir gesehen, dass die Kapazitäten [der NSA] sich ständig weiter entwickeln und ausdehnen. Ich werde deshalb nun eine Prüfung einleiten. Denn das, was sie machen können, ist nicht unbedingt auch das, was sie machen sollten."

Endlich geht es um den Unterschied zwischen können und sollen. Wenn Merkel zu Recht der Auffassung ist, die Bespitzelung ihrer Person durch die amerikanischen Geheimdienste sei eine Grenzübertretung (und sie ist es zu Recht), warum ist es dann nicht gerechtfertigt, wenn auch wir wütend sind? Wenn die Amerikaner wütend sind, warum können dann nicht auch deutsche, französischen, spanische, brasilianische und britische Staatsbürger sauer sein? Wenn wir uns nicht darüber wundern sollen, dass sie Regierungen einander ausspähen, können wir dann wenigstens jetzt darüber überrascht sein, dass so viele von uns ebenfalls ins Netz geraten sind?

Senatorin Feinstein hat noch vor wenigen Tagen in einem Artikel die Speicherung von Metadaten von Telefonverbindungen durch die Geheimdienste verteidigt. Diese Aufzeichnungen könnten helfen, die "Punkte zu verbinden", schrieb sie. Da stellt sich doch die Frage, ob es dadurch, dass man immer mehr Punkte hat, einfacher – oder nicht vielleicht schwieriger – wird, diese zu verbinden. Wir und unsere Kommunikation, unser Tun, unsere Verbindungen und unser Leben sind für sie bloß Punkte in einer Datenbank. Diese Punkte sind Augenblicke unseres Lebens – und sie gehören nun ihnen.

Doch wir sollten verständliche Gefühle wie Überraschung und Wut und die empfundene Grenzverletzung hinter uns lassen und zum Kern der Sache vordringen: Was erreicht die NSA? Was ist der Preis ihrer Neugier? Wo sind ihre Grenzen? An welchen Prinzipien halten wir selbst angesichts einer Bedrohung fest? Welche Rechte haben wir als Bürger, zu erfahren, was unsere Regierung uns und anderen in unserem Namen antut?

Jeff Jarvis ist Bestsellerautor und einer der einflussreichsten US-amerikanischen Internet-Publizisten.

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Jeff Jarvis | The Guardian

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