Wieviele Fotos hast du gemacht?

Nervensägen Viele laufen durch Museen, knipsen alles mit ihrem Foto-Handy und nehmen die Kunst gar nicht wahr. "Guardian"-Autor Marcel Berlins macht das Treiben wahnsinnig

Zum ersten Mal begegnete mir das Phänomen vor ein paar Jahren – im Römischen Petersdom, vor der Pietà von Michelangelo. In seinen ganzen epischen Ausmaßen erblickte ich es aber erst vergangene Woche im New Yorker Museum of Modern Art (MOMA). Diejenigen, die mich in Rom noch zu einem milden Ts-Ts-Ts veranlasst hatten, konnten wenigstens die Entschuldigung vorbringen, jung zu sein und es nicht besser zu wissen – viele von ihnen befanden sich eindeutig auf einem Schulausflug. Die MOMA-Täter hingegen waren in jedem Alter und von jeder Nationalität. Sie hatten keine Entschuldigung.

Grundsätzlich habe ich gar nichts gegen Mobiltelefone, mit denen man auch fotografieren kann. Sie sind sehr nützlich, wenn es darum geht, in einer unvorhergesehenen Situation ein Foto zu machen. Zudem können sie, wie die Ereignisse in London vor ein paar Wochen gezeigt haben, der Öffentlichkeit einen großen Dienst leisten, indem sie Dinge zeigen, die sonst vielleicht unenthüllt geblieben wären – Polizeigewalt zum Beispiel.

Doch was ich im Moma erlebt habe, war die dunkle Kehrseite dessen. Beim Anblick der vielen anderen Ausstellungsbesucher, die nach ihren Handys griffen, fürchtete ich zunächst, sie würden bald in die Geräte hineinsprechen. Dies passierte jedoch nicht. Anfangs war ich auch noch nicht allzu beunruhigt, als ich sah, dass sie stattdessen die Gemälde fotografierten, empfand dies zwar als ein wenig lästig und leicht aufdringlich, aber kaum verwerflich. Doch dann ereilte mich die traurige, schockierende Wahrheit. Die meisten der Fotografen drückten auf den Auslöser, ohne ein Interesse daran zu zeigen, sich die Bilder selbst anzusehen. Ein flüchtiges Hinsehen war das Höchste der Gefühle.

Schubsen für den Aufnahmewinkel

Ich wurde nicht von Leuten zur Seite geschupst und gedrängelt, die unbedingt einen besseren Blick auf die in einem der besten Museen der Welt ausgestellten Kunstwerke ergattern wollten, sondern von Handy-Besitzern, die auf grobe Weise zu verhindern versuchten, dass jemand ihnen den erwünschten Aufnahmewinkel verstellte. Sie waren nicht gekommen, um die Werke künstlerischer Genies zu sehen und sich von diesen inspirieren zu lassen, sondern um fotografische Beweise dafür herzustellen, dass sie da gewesen waren.

Als Mensch, dem viel an Fairness liegt und der immer gewillt ist, im Zweifel für den Angeklagten zu urteilen, zog ich wohlwollend die Möglichkeit in Betracht, dass diese Leute die Fotos machten, um die Bilder dann ausführlich und im Detail in der Behaglichkeit des eigenen Zuhauses zu studieren – und nicht bloß von Menschenmassen umringt einen hastigen Blick darauf werfen zu können. Da ich aber auch Realist bin, verwarf ich diese absurde These umgehend.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Ich wurde Zeuge von Verhaltensweisen, wie sie mir in einem Museum völlig unbekannt waren. Da fotografierte manch einer Partner oder Freunde, die neben oder sogar vor einem berühmten Werk posierten. Weder die Fotografen noch die Fotografierten verschwendeten auch nur einen Gedanken daran, einmal das Exponat selbst zu betrachten. Ich beobachtete allerdings ein paar, die etwas auf der Infotafel nachsahen – zweifelsohne um sicherzugehen, dass es sich bei den Künstler wirklich um einen berühmten Namen und nicht irgendeinen unbedeutenden Pinsler handelt. Der Fairness halber soll gesagt sein, dass keines der Paare mich bat, es grinsend vor einem Picasso – so einem Künstler, von dem sie schon einmal gehört haben – zu fotografieren.

Eine Minute mit dem Kunstwerk

Das Fotografieren in Museen sollte verboten werden. Ich habe aber auch eine weniger drastische Lösung anzubieten. Jeder, der ein Ausstellungsstück fotografieren will, sollte gezwungen werden, es sich zuerst mindestens eine Minute lang anzusehen. Im Fall von Verstößen sollte für jede Sekunde des Nicht-Betrachtens ein Bußgeld erhoben werden. Dieses Modell würde natürlich mit beträchtlichen technologischen, finanziellen, logistischen und personellen Implikationen einhergehen. Doch wäre es ja für die Sache der Kunst.

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Marcel Berlins, The Guardian | The Guardian

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