Facebook Das Internet hat die Kommunikation, von Mail bis Videokonferenz, von äußeren Zwängen fast unabhängig gemacht. Aber ist Freundschaft bei Facebook mehr als Datenaustausch?
Am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages um 22.53 Uhr schrieb Simone Back ihre letzte Statusmeldung auf ihre Facebook-Seite: "Ich habe alle meine Tabletten genommen und werde bald tot sein, also tschüss ihr." Einer ihrer Freunde antwortete: "Sie nimmt ständig Überdosen und sie lügt." Ein weiterer schaltete sich ein: "Sie hat die Wahl – wegen einer Beziehung Tabletten zu nehmen reicht als Grund nicht aus." Andere überlegten, ob es sich um einen Bluff handelte. Von den 1.048 Freuden, die Back auf Facebook hatte, hat sich kein einziger nach ihr erkundigt. Sie starb um 5.05 Uhr des zweiten Weihnachtsfeiertages. Kurz darauf schrieb ihre Mutter folgenden Eintrag: "Meine Tochter Simone ist heute gestorben, also lasst sie jetzt bitte in Ruhe."
Einer der erbärmlic
#228;rmlichsten Aspekte dieser an Erbärmlichkeit nicht armen Geschichte besteht darin, dass sie einen überhaupt nicht überrascht. Man kennt das: Ein niedergeschlagener Mensch, ein vergeblicher Hilferuf und eine Internet-Gemeinde, von der keiner einen Finger rührt, es sei denn, um vernichtende Kommentare zu schreiben. Die Gleichgültigkeit gegenüber Backs tödlicher Überdosis korrespondiert mit den immer wieder vorkommenden Fällen, in denen Kinder durch Mobbing auf Social-Networking-Seiten in den Selbstmord getrieben werden, und in anderer Weise auch mit dem Fall der Jugendlichen aus Herforshire, die ihre Geburtstagsparty auf Facebook angekündigte und 21.000 Rückmeldungen erhielt.Wenn man so etwas liest, fragt man sich für gewöhnlich, was so eine Online-Freundschaft denn überhaupt wert ist. Oder anders gefragt: Wie ist es möglich, auf einer Webseite über 1.000 Freunde zu finden, von denen dann kein einziger eingreift, wenn man versucht, sich das Leben zu nehmen?500 Millionen Mitglieder, viele "lolz"Wenn Facebook und die anderen sozialen Netzwerke in der öffentlichen Debatte auftauchen, geht es meistens um Themen wie den Schutz der Privatsphäre im Internet oder wie sie politische Aktionen unterstützen könnten. Die Frage, wie sie unsere Beziehungen prägen, wird hingegen wesentlich seltener gestellt. Dabei ist Facebook mittlerweile die meistbesuchte Seite (in den USA), hat 500 Millionen Mitglieder, die binnen 20 Minuten 2,7 Millionen neue Bilder und über 10 Millionen neue Kommentare hochladen – auch wenn die meisten nur aus einem "lol" bestehen. Es lohnt sich also, einen genaueren Blick auf die Seite zu werfen.Verteidiger von Facebook-Freundschaften verweisen auf diese Zahlen und behaupten, mehr sei besser. Die Anthropologin Stefana Broadbent argumentiert, die neuen Plattformen und die Technik würden es den Usern ermöglichen, unabhängig von der räumlichen Distanz in engem Kontakt mit ihren Lieben zu bleiben. Um dies zu belegen, erzählt sie die Geschichte eines in Italien lebenden brasilianischen Paares, das einmal in der Woche mittels einer Webcam ein virtuelles Abendessen mit seinen Verwandten in Sao Paulo veranstaltet. Und dann wäre da noch John Cacioppo, Koautor des Buches Loneliness, der darauf hinweist, dass Facebook, Skype und die gute alte E-Mail ein Segen für Menschen sind, die aufgrund ihrer körperlichen Behinderung stark an ihre Wohnung gebunden sind und andernfalls kaum die Möglichkeit hätten, soziale Kontakte zu pflegen: "Etwas – egal wie klein es auch sein mag – ist immer noch besser als gar nichts."Damit hat er zweifellos recht. Was die Beispiele zurecht betonen, ist, dass das Internet die Kommunikation, von der E-Mail bis hin zur Video-Konferenz, fast völlig von äußeren Zwängen unabhängig gemacht hat. Was sie nicht thematisieren, ist aber die Frage, wie die Kommunikation von Unternehmen mit einem potenziellen Börsenwert von 50 Milliarden strukturiert wird.Jeder, der schon einmal bei Facebook war, weiß, was ich meine. Wenn man sich anmeldet, wird man aufgefordert, einen Fragebogen auszufüllen. Unter seinem Geburtsdatum wird man angehalten, sein Lieblingszitat einzutragen (selbstverständlich hat jeder ein Lieblingszitat). Dann soll man angeben, wonach man sucht: Freundschaften, Verabredungen, eine Beziehung, Netzwerke? Das sind die vier Formen der sozialen Interaktion, die in der Facebook-Welt möglich bzw. denkbar sind. Einen "Chat über den kommenden Aufstand" sucht man ebenso vergeblich wie die Kategorie "Solipsismus für zwei". In der guten alten Zeit gab es wenigstens noch die Möglichkeit von Zufallstreffern, mit wem man vernetzt werden will, was den Vorteil hatte, dass es gleichzeitig verrucht und vage situationistisch klang.Binär, nicht mehrdeutigJaron Lanier hält derartige Kästchendefinitonen für eine Form der "Selbstbeschränkung". In seinem jüngsten Buch You Are Not A Gadget weist der Computerwissenschaftler darauf hin, dass diese "halbautomatisierte Selbstpräsentation" (von den "vorgeschlagenen Freunden" und den "who to follow"-Aufforderungen auf Facebook und Twitter) aus dem binären Ansatz der Softwareprogrammierung erwachsen ist, nicht aus den Mehrdeutigkeiten menschlicher Interaktion. Wenn man dies liest, erinnert man sich daran, was das Time Magazine über Facebook-Gründer Mark Zuckerberg schrieb, als es ihn zur 'Person of the Year 2010' machte: "Er sieht Kommunikation als eine Form, so schnell und effizient wie möglich Daten auszutauschen, und nicht als etwas, das in erster Linie der Entspannung und Erholung dient."Aber nicht nur Zuckerberg hat die Fähigkeit verloren, Konversation als eine Form der Entspannung zu betrachten. Wenn man am Arbeitsplatz und zu Hause ständig unter Zeitdruck steht, werden alle außer den engsten Beziehungen automatisch gehetzter und oberflächlicher. Dieser Trend wird durch die Facebook-Updates dessen, was man "gerade jetzt" macht oder denkt, weiter verstärkt.
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