Wir betreten jetzt eine neue Welt

Corona-Krise Die Realität fühlt sich plötzlich seltsam an: Es kann sich ja doch alles ändern! Führt also auch ein Weg in eine bessere Zukunft?
Ausgabe 15/2020
Wir betreten jetzt eine neue Welt

Illustration: der Freitag

Alles fühlt sich jetzt neu an, so unglaublich, überwältigend. Zugleich ist es wie in einem altbekannten Traum. Denn wir haben das doch alles schon einmal gesehen – im Fernsehen, in Kino-Blockbustern. Wir wussten in etwa, wie es sein würde. Aber das macht das alles nicht weniger seltsam – ganz im Gegenteil.

Nehmen wir an, vor ein paar Wochen hätte uns jemand gesagt: Innerhalb eines Monats werden die Schulen geschlossen und fast alle öffentlichen Versammlungen abgesagt sein. Hunderte Millionen von Menschen weltweit verlieren ihre Arbeit. Regierungen schustern Konjunkturpakete zusammen, so groß wie kaum je zuvor in der Geschichte. Mancherorts verzichten Vermieter auf die Miete, stunden Banken Immobilienkredite und dürfen Obdachlose kostenfrei in Hotels übernachten. Ein vom Staat direkt gewährtes Grundeinkommen ist nicht mehr nur graue Theorie. Weite Teile der Welt haben sich dem verschrieben, dass Menschen, wann immer möglich, zwei Meter Abstand voneinander halten – teils mittels Zwang, teils mittels verhaltensökonomisch begründetem „Nudging“, Anstups-Strategien also. Hätten Sie etwa geglaubt, was Ihnen da erzählt wird?

Geradezu schwindelig wird einem nicht nur wegen des Ausmaßes und der Geschwindigkeit all dessen. Wir haben uns angewöhnt zu glauben, dass Demokratien nicht in der Lage sind, derartige Veränderungen schnell ins Werk zu setzen. Aber siehe da, es geht.

Ein Blick zurück zeigt, dass Krisen und Katastrophen oft Weichen für die Zukunft gestellt haben. Oft hin zum Besseren. Die Spanischen Grippe 1918 half, in vielen Staaten Europas ein öffentliches Gesundheitswesen aufzubauen (der Freitag 13/2020). Die Große Depression der 1920er und der Zweite Weltkrieg, untrennbar miteinander verbunden, schufen die Grundlage für die Entstehung des modernen Sozialstaates.

Wo liegt die Macht?

Aber, klar: Krisen können Gesellschaften auch in eine ganz andere Richtung lenken. Infolge der Anschläge vom 11. September 2001 nahm die staatliche Überwachung von Bürgern zuvor ungeahnte Ausmaße an. US-Präsident George W. Bush startete Kriege und Besatzungen, deren Ende bald unabsehbar wurde. Der Bankencrash 2008 führte dazu, dass den Finanzkonzernen zu einer Vor-Krisen-Normalität verholfen wurde – zum Preis harter Kürzungen der öffentlichen Daseinsvorsorge und damit auf Kosten der Allgemeinheit.

Krisen formen die Geschichte. Von daher beschäftigen sich viele Wissenschaftler mit ihnen. Die Forschung zeigt, dass Krisen die fundamentalen Realitäten einer Gemeinschaft oder Gesellschaft offenlegen: Wer hat mehr, wer weniger? Wo liegt die Macht? Was ist den Leuten viel wert, was fürchten sie? Was immer in einer Gesellschaft nicht stimmt, wird dann besonders deutlich sichtbar, oft im Kleinen. Dafür gab es in den vergangenen Wochen unzählige Beispiele: Flugzeuge, die leer hin- und herfliegen, um Start- und Lande-Slots nicht zu verlieren. Die französische Polizei, die auf Grundlage der Ausgangssperre Obdachlose mit Geldstrafen belegte, weil sie sich draußen aufhielten. Gefängnisinsassen im US-Bundesstaat New York, die für weniger als einen Dollar pro Stunde Desinfektionsmittel abfüllen, welches sie aber selbst nicht benutzen dürfen, weil es Alkohol enthält – und das in einem Gefängnis, in dem es keine kostenlose Seife für die Häftlinge gibt. Sie müssen sie in einem Laden kaufen.

Doch Katastrophen führen nicht nur klar vor Augen, wie die Welt ist. Zugleich reißen sie das Gewebe der Normalität auf – und durch diesen Schlitz erblicken wir dann die Möglichkeiten einer anderen Welt. Manche Denkerinnen konzentrieren sich darauf, was alles schiefgehen könnte. Andere sind optimistischer; versuchen zu fragen, was es zu gewinnen gibt. In keiner Katastrophe schlägt das Pendel nur zur einen Seite aus: Stets koexistieren Verlust und Gewinn. Und erst im Rückblick werden die Umrisse der neuen Welt, die wir betreten, klarer.

Wissenschaftler, die Katastrophen und insbesondere Pandemien untersuchen, kennen deren Tendenz zu einer rassistisch geprägten Suche nach einem Sündenbock. Als der Schwarze Tod im 14. Jahrhundert Europa heimsuchte, schotteten sich Städte ab, attackierten, verbannten und töteten „unerwünschte“ Mitglieder ihrer Gemeinschaft, meist Juden. 1858 drang in New York City ein Mob in ein Quarantäne-Hospital für Einwanderer ein, forderte alle zum Verlassen des Gebäudes auf, und brannte es nieder – aus Angst davor, dass sich die Menschen in der Gegend mit Gelbfieber anstecken könnten. Heute ist bei Wikipedia eine „Liste xenophobischer und rassistischer Vorfälle in Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie von 2019/20“ zu lesen, mit Einträgen aus zuletzt knapp 30 Staaten weltweit.

„In einer völlig rationalen Welt wäre davon auszugehen, dass eine internationale Pandemie zu mehr Internationalismus führt“, sagt der US-Historiker Mike Davis, Autor des Buches The Monster at Our Door: The Global Threat of Avian Flu, 2005 auf Deutsch unter dem Titel Vogelgrippe. Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien erschienen. Pandemien zeigten perfekt die Art von Krisen, für die der globale Kapitalismus mit seiner ständigen Personen- und Güter-Mobilität anfällig ist. Aber auch, dass die kapitalistische Weltsicht in ihrer Unfähigkeit, über Profit hinauszudenken, nicht mit diesen Krisen umgehen kann. „In einer rationalen Welt würden wir die Herstellung grundlegender Güter hochschrauben – Beatmungsgeräte, Tests, Schutzmasken –, und zwar nicht nur für den eigenen Gebrauch, sondern ebenso für ärmere Länder. Denn es ist ja ein und derselbe Kampf. Aber die Welt ist nicht zwangsläufig rational. Daher könnte es zu starker Dämonisierung und Rufen nach Isolation kommen. Das wird dann weltweit mehr Todesfälle und mehr Leid bringen.“

In den USA versuchte Präsident Trump mit allen Mitteln, das neue Coronavirus als „chinesisch“ zu brandmarken und die Pandemie als Vorwand zu nutzen, die Grenzen vor allem gegen Asylsuchende weiter abzuschotten. Politiker, Medien und Denkfabriken deuteten an, Covid-19 sei eine menschengemachte Biowaffe Chinas. Auf der anderen Seite gibt es auch offizielle chinesische Stimmen, die der Verschwörungstheorie, US-Soldaten hätten das Virus nach China gebracht, das Wort reden. In Ungarn sagte Regierungschef Viktor Orbán jüngst: „Wir kämpfen einen Zwei-Fronten-Krieg: Die eine Front ist die Migration, die andere das Coronavirus. Es gibt eine logische Verbindung zwischen beiden, da sie sich beide mittels Mobilität ausbreiten.“

In einem Krieg will man so viel wie möglich über den Feind wissen. Aber in der Eile einer Krise kann es leicht passieren, dass Überwachungsinstrumente eingeführt werden, ohne den möglichen langfristigen Schaden zu bedenken. Shoshana Zuboff, Autorin des 2018 erschienenen Buches Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (der Freitag 47/2018), erinnerte mich daran, dass die US-Regierung vor 9/11 dabei war, ernst zu nehmende Regeln zu entwickeln, die es Internetnutzern ermöglichen, zu entscheiden, wie ihre persönlichen Daten genutzt werden dürfen und wie nicht. „In wenigen Tagen veränderte sich das Ziel“, so Zuboff. „Es ging nicht mehr um die Frage ,Wie regulieren wir Firmen, die sich nicht an Datenschutznormen halten?‘, sondern um die Frage ,Wie fördern und schützen wir diese Firmen, damit sie Daten für uns sammeln können?‘.“

Für Regierungen, die ihre Bürger noch stärker überwachen, und Unternehmen, die dadurch reich werden wollen, lässt sich kaum eine bessere Krise vorstellen als eine globale Pandemie. In China suchen Drohnen nach Menschen ohne Gesichtsmasken und maßregeln sie über Lautsprecher. Deutschland, Österreich, Italien oder auch Belgien wollen – bisher anonymisierte – Daten von Telekommunikationskonzernen nutzen, um die Bewegungen der Menschen nachzuverfolgen. In Israel darf fortan der Geheimdienst auf Telefonie-Daten Infizierter zugreifen. Südkorea schickt der Bevölkerung per SMS Informationen über potenziell infizierte Personen und darüber, wo sie sich aufgehalten haben.

Nicht jede Überwachung ist automatisch böse, neue Technologien könnten sehr wohl eine Rolle im Kampf gegen das Virus spielen. Zuboffs Sorge aber ist, dass diese Notmaßnahmen bleiben könnten, so stark in unser tägliches Leben eingewoben, dass wir ihren ursprünglichen Zweck vergessen. Infolge der Ausgangsbeschränkungen hängen jetzt viele zu Hause an Computer und Smartphone, abhängiger denn je von den großen Technologiekonzernen, die sich zugleich dem Staat als unerlässlicher Teil der Lösung des Problems anbieten. „Wenn Menschen mit so etwas wie einer Pandemie klarzukommen versuchen, fällt es ihnen schwer, sich an das Recht auf Privatsphäre zu erinnern“, sagt Vasuki Shastry von der Denkfabrik Chatham House, der das Zusammenspiel von Technologie und Demokratie erforscht. „Wenn ein System erst einmal hochgefahren ist, kann es sehr schwierig sein, es wieder runterzufahren. Und dann wird es vielleicht auch noch für andere Zwecke genutzt.“

Die Regierungschefs Israels und Ungarns haben in kürzester Zeit die Macht erhalten, per Dekret zu regieren, ohne Einmischung von Gerichten und Parlamenten. In Großbritannien können Polizei und Einwanderungsbehörden Menschen festhalten, die unter Verdacht stehen, infiziert zu sein, um sie testen zu lassen – das entsprechende Gesetz gilt für zwei Jahre. Das US-Justizministerium hat wegen der Corona-Krise beim Kongress eine Regelung beantragt, die es Richtern ermöglichen würde, notfalls Verfahren auszusetzen, was die Möglichkeit schaffen würde, dass Menschen inhaftiert werden, ohne jemals formell Einspruch erheben zu können.

2008 ließ die Bürgerrechtsbewegung American Civil Liberties Union ein Team aus Medizinethikern und Historikern rechtliche Aspekte des Kampfes gegen Pandemien untersuchen – veranlasst durch den Anstieg pandemischer Ausbrüche der Grippe. Das Team kam zu dem Schluss, dass Regierungen, und zwar verstärkt seit dem 11. September, dazu neigen, auf öffentliche Gesundheitsprobleme in einer Art und Weise zu reagieren, die eher für die Jagd auf Kriminelle angebracht wäre. Sie denken im Modus der Verdächtigung, worunter vor allem ethnische Minderheiten und die Armen litten. Dieser Ansatz könne den Kampf gegen Krankheiten sogar erschweren, indem er einen Keil des Misstrauens zwischen Regierung und Bürger treibt. „Statt der Krankheit werden Menschen zum Feind“, heißt es in dem Bericht.

Illustration: der Freitag

All dem gegenüber stehen Denkerinnen, die in dieser Krise Chancen aufschimmern sehen – darauf, dass es anders läuft als 2008, als die Vielen viel verloren und eine kleine Gruppe profitierte. „Der Blick auf die Folgen der Finanzkrise hat uns verändert“, sagt die US-Autorin Rebecca Solnit. „Ideen, die einst als ,links‘ galten, sind für viel mehr Leute heute ‚vernünftig‘. Es gibt Raum für Veränderung, den es vorher nicht gab. Da öffnet sich gerade etwas.“

In seiner einfachsten Form lautet dieses Argument wie folgt: Covid-19 legt offen, wie kaputt der Status quo ist. Lange bevor wir vom Coronavirus überhaupt gehört hatten, starben Menschen an Krankheiten, die wir verhindern und behandeln können. Viele lebten inmitten von Überflussgesellschaften ein unglaublich prekäres Leben. Experten warnten vor Katastrophen, auch Pandemien, und nichts geschah, um uns darauf vorzubereiten. Gleichzeitig zeigen die drastischen Maßnahmen dieser Wochen, wie viel Macht der Staat hat. Was eine Regierung umsetzen kann und wie schnell, wenn sie Gefahr läuft, ihre Legitimation zu riskieren. Der indische Essayist Pankaj Mishra (Das Zeitalter des Zorns, 2017) schrieb jüngst: „Es brauchte erst solch ein Desaster, damit der Staat seine originäre Verantwortung annahm – die Bürger zu schützen.“

Der Staat interveniert

Ob es um Gesundheit oder Wohnen ging, drastische staatliche Interventionen galten über Jahre hinweg als nicht machbar. Am besten funktioniere der Markt. Ein Markt, an dem große Unternehmen, denen es nicht um Allgemeinwohl, sondern Profit geht, eine zentrale Rolle spielen. Doch als das Virus sich verbreitete, gaben Regierungen in wenigen Tagen Billionen aus – plötzlich war die Antwort auf die Frage, was möglich ist, eine ganz andere. Aus dieser Perspektive kann es jetzt nicht darum gehen, Covid-19 zu bekämpfen, um zum ,Business as usual‘ zurückzukehren – denn schon das war ein Desaster. Es geht jetzt vielmehr darum, das Virus zu bekämpfen und dabei den vorherigen Status quo in etwas Humaneres, Sichereres zu verwandeln.

Rebecca Solnit argumentiert in ihrem Buch A Paradise Built in Hell (2009) anhand von Fallstudien – darunter das Erdbeben in Mexico City 1985, der 11. September und der Hurrikan Katrina 2005 –, dass Katastrophen nicht nur Momente sind, in denen alles zusammenbricht und die Menschen unausweichlich ängstlicher, egoistischer und misstrauischer werden. Sie zeigt, wie in solchen Momenten die menschliche Fähigkeit zu Improvisation, Solidarität und Entschlossenheit zutage tritt; Sinn und Freude inmitten von Verlust und Schmerz. Das ist kein Loblied auf den Katastrophenfall, aber ein Hinweis: Häufig scheitere die „offizielle“ Reaktion auf Katastrophen, weil sie Menschen als Teil des Problems und nicht der Lösung begreife.

Das muss nichts mit Inkompetenz zu tun haben. In ihrem 2007 erschienenen Buch Die Schock-Strategie malt die kanadische Autorin Naomi Klein ein düsteres Bild von Krisenpolitik. Auf Katastrophe eins – ob Erdbeben, Rezession oder militärischer Konflikt – folge stets Katastrophe zwei: all das Schlimme, auf das die Mächtigen dann kommen: extreme Wirtschaftsreformen durchzudrücken oder die Gelegenheit zu Selbstbereicherung in der Zeit nach der Krise zu nutzen, während der Rest noch zu benommen ist, um es mitzukriegen.

Im Gegensatz zu Solnits Buch hat Die Schock-Strategie wenig zur Widerstandskraft normaler Bürger zu sagen. Dafür hat Solnit Naomi Klein kritisiert. Eigentlich aber passen beide Bücher wie Puzzleteile zusammen. Beide behandeln Krisen nicht als etwas Unausweichliches, „Natürliches“, das einfach passiert, sondern als etwas, bei dem es darauf ankommt, welche Entscheidungen Menschen treffen. 2008, Barack Obama war gerade gewählt, sagte sein Stabschef Rahm Emanuel: „You never want a serious crisis to go to waste“, dass man also die Gelegenheiten, die ernste Krisen böten, nie verschwenden solle. Linke, die von Obama heute vor allem enttäuscht sind, werden dem wohl zustimmen – in dem Sinne, dass sie in der letzten Krise verloren haben und dass jetzt der Zeitpunkt ist, das Blatt zu wenden. Wenn sich in ein paar Wochen so vieles ändern kann – was ließe sich dann in einem Jahr erreichen?

Für alle, die so argumentieren, muss der Unterschied zwischen 2008 und der Krise heute augenfällig sein. Verglichen mit der undurchsichtigen Finanzkrise mit ihren „Credit Default Swaps“ und „Collateralized Debt Obligations“ ist das Coronavirus recht einfach zu verstehen. Ein Dutzend Krisen in einer, alle gleichzeitig, unübersehbar. Politiker infizieren sich. Reiche Promis infizieren sich. Eigene Freunde und Verwandte infizieren sich. Wir hängen sicher nicht „alle gleich mit drin“ – stets trifft es die Ärmstem am härtesten. Aber bei der Wahrscheinlichkeit, „betroffen“ zu sein, gibt es durchaus einen Unterschied zwischen heute und 2008.

Optimisten bestärkt das in der Hoffnung, wir könnten anfangen, die Welt anders zu sehen. Unsere Probleme als gemeinsame erkennen, die Gesellschaft nicht mehr nur als eine Masse von Individuen zu sehen, die in einem Wettbewerb um Reichtum und Status stehen. Kurzum, vielleicht sollte jene Logik des Marktes nicht so viele Bereiche des Lebens dominieren, wie dies heute der Fall ist. „Es gibt mehr Leute, die eins und eins zusammenzählen können“, sagt Naomi Klein. „Leute in einem gewissen Alter haben den Kapitalismus immer nur als Krise erlebt. Sie wollen Veränderung.“

Das laute Hintergrundrauschen solcher Gespräche dieser Tage ist die Klima-Krise. Wenn 2008 die Katastrophe ist, deren Wiederholung Naomi Klein und andere verhindern wollen, dann ist der Klimawandel die Katastrophe, von der sie wissen, dass sie viel größer und längst Realität ist, und die sie bekämpfen wollen. Tatsächlich hat Naomi Klein in den Jahren seit Die Schock-Strategie den Klimawandel zu ihrem Schwerpunkt gemacht.

Sei Covid-19 auch die größte Globalkrise seit dem Zweiten Weltkrieg, langfristig wird sie ein Zwerg sein im Vergleich zum Klimawandel. Es gibt Ähnlichkeiten, ja: Das eine wie das andere erfordert globale Kooperation in außergewöhnlichem Umfang. Es geht in beiden Fällen darum, jetzt zu handeln, um künftiges Leid zu vermeiden. Beide Katastrophen haben Wissenschaftler vorhergesagt; trotzdem vermochten es Regierungen nicht, über die Wachstumsprognose für das nächste Quartal hinauszublicken. Beide Probleme erfordern drastische staatliche Maßnahmen, die Verbannung der Marktlogik aus gewissen Bereichen und öffentlichen Investitionen. Das jetzige Ausmaß staatlicher Intervention zeitlich beschränkt zu denken, hat zur Folge, weiter auf die Klimakatastrophe zuzusteuern.

Notfallmodus als Chance

„Seit Jahren versuchen wir die Leute aus einem Normalzustand in einen Notfall-Modus zu versetzen“, sagt Margaret Klein Salamon, Psychologin und heute Leiterin der Initiative The Climate Mobilization. „Was politisch möglich ist, ist grundlegend anders, wenn viele in den Notfall-Modus schalten und grundsätzlich akzeptieren, dass Gefahr besteht und dass wir alles tun müssen, wenn wir sicher sein wollen. Es war interessant zu sehen, wie die Reaktion auf Corona diese Theorie bestätigt hat. Jetzt besteht die Herausforderung darin, den Notfall-Modus in Bezug auf das Klima, wo die Gefahren um ein Vielfaches größer sind, aktiviert zu halten. Wir können nicht glauben, dass wir wieder zum ,Normalen‘ zurückkehren. Es war nicht normal.“

An diesem Punkt haben sich die Gemeinsamkeiten von Corona und Klimawandel erschöpft. Die Folgen des Klimawandels sind schleichender. Kaum einer hat heute das Gefühl, dass geliebte Menschen noch diesen Monat durch die Klimakrise sterben könnten. Die Alarmstufe ist schwieriger zu aktivieren und zu halten. Hätten wir den Klima-Notstand wirklich akzeptiert, sagt Salamon, würden Dashboards und Updates darüber, welche Länder ihre Emmissionen am schnellsten reduzieren, die Schlagzeilen dominieren, die Leute würden zetern, ihre Regierung solle gefälligst die Maßnahmen übernehmen, die funktionieren.

Tatsächlich aber könnte diese Pandemie unser Verständnis vom Klimawandel verändern. Weil industrielle Produktion und Straßenverkehr gedrosselt sind, ist die Luft besser. Der Stanford-Forscher Marshall Burke schätzt anhand von Daten aus vier chinesischen Städten, dass allein in China der verringerte Feinstaubgehalt in der Luft seit Beginn der Pandemie das Leben von mindestens 1.400 unter Fünfjährigen und 51.700 Menschen über 70 gerettet hat. In aller Welt merken Menschen und erzählen davon im Internet, dass die Luft besser riecht, Fahrräder mehr Platz haben und im Kiez der Gesang der Vögel zu hören ist.

Gleichzeitig lässt sich Naomi Kleins „Schock-Strategie“-Raster erkennen, Katastrophe eins: Covid-19. Katastrophe zwei: der Rückbau der Umweltschutzgesetze. Nach Lobbyarbeit der Industrie verkündete die US Environmental Protection Agency am 26. März, sie werde wegen der Auswirkungen der Pandemie auf Belegschaften Verstöße gegen Luftreinhaltegesetze nicht ahnden, wenn Unternehmen sie in Zusammenhang mit dem Virus bringen können. Chinas Umweltministerium hat begonnen, auf Inspektionen zum ökologischen Fußabdruck von Fabriken zu verzichten. Von der Plastikindustrie bezahlte Lobbyisten verbreiteten mit einer Blitzkampagne die unbewiesene These, das Virus setze sich weniger wahrscheinlich an Plastik fest als auf wiederverwendbaren Stofftaschen. Auch 2008 sanken die Emissionen. 2010 und 2011 stiegen sie wieder drastisch.

Der Historiker Philip Mirowski (Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist, der Freitag 45/2015) warnt: „Die Linke dachte, 2008 sei der Bankrott einer bestimmten Sicht auf die Wirtschaft doch so offensichtlich für alle geworden. Aber das war nicht für alle offensichtlich, und die Linke hat verloren.“ Bleibt auch dieses Mal alles beim Alten?

„Die politischen Folgen der Epidemie“, sagt Mike Davis, „werden – wie alle anderen politischen Folgen – durch Kämpfe entschieden, durch Schlachten um Deutungshoheit, darum, aufzuzeigen, was Probleme verursacht hat und was sie löst.“ Eine große Erschwernis für diese Kämpfe ist das Gebot der sozialen Distanzierung, das viele erprobte Wege zum Austragen solcher Kämpfe behindert, Straßenproteste etwa. „Das größte Risiko für uns alle“, so Naomi Klein, „ist, dass wir diese Zeit zu Hause vor unseren Social-Media-Feeds verplempern und die extrem limitierte Form von Politik leben, die dort zur Verfügung steht.“ Mike Davis hofft, dass bald wieder Demonstranten auf die Straße gehen. Eine Aktion, bei der alle mit ihren Transparenten in der Hand den Mindestabstand einhalten, das sei doch ein dramatisches Bild für die Medien. Er selbst wollte sich nach dem Gespräch eine Weile allein an eine Straßenecke in San Diego stellen und ein Schild hochhalten. Was draufstehen würde, hatte er noch nicht entschieden, vielleicht „Unterstützt die Pflege-Gewerkschaft“ oder „Fordert Lohnfortzahlung im Krankheitsfall“.

Rebecca Solnit schöpft Mut daraus, wie Menschen allerorts mit anderen jetzt auf neuem Wege in Verbindung treten und sich helfen: Nachbarschaftsnetzwerke, die Einkaufshilfe bieten, Kinder, die auf dem Balkon Musik machen für ältere Nachbarn. Alessandro Delfanti, der über Arbeiter, Roboter und Algorithmen forscht, machen die Streiks in Amazon-Lagern in den USA wie Europa Hoffnung, und die solidarische Zusammenarbeit von Arbeitern verschiedener Sektoren Italiens bei der Beschaffung von Schutzausrüstung. Was als Nächstes passiert, hängt wohl von der Fähigkeit der Optimisten ab, solche Momente der Solidarität in eine breitere politische Sphäre zu transformieren. „Wir haben nicht einmal eine Sprache für diese Emotion, in der das Wunderbare in das Schreckliche eingehüllt wird, Freude in Trauer, Mut in Angst“, schreibt Solnit in A Paradise Built in Hell.

Die Welt fühlt sich im Moment furchtbar seltsam an, aber nicht nur, weil sie sich so schnell verändert und jeder jederzeit krank werden könnte. Sie fühlt sich seltsam an, weil die vergangenen Wochen offengelegt haben, dass sich alles jederzeit ändern kann. Diese einfache Wahrheit, so verunsichernd wie befreiend, vergisst man leicht. Wir gucken da gerade keinen Film, nein, wir schreiben einen. Gemeinsam. Bis zum Ende.

Peter C Baker ist freier Autor. Er lebt in Chicago und schreibt regelmäßig für den Guardian

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Peter C Baker | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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