Der Chefredakteur des Guardian, Alan Rusbridger, fragte mich im August, ob ich für eine Woche nach New York reisen würde. Dort sollte ich die von Edward Snowden kopierten Dateien des britischen Geheimdienstes GCHQ lesen, deren britische Kopie der Guardian auf Druck der Regierung zerstören musste. Rusbridger meinte, es könne interessant sein, das Material aus der Sicht eines Autors anzuschauen, der sich dafür interessiert, wie wir heute leben. Anfangs widerstrebte es mir, die Einladung anzunehmen, weil ich die Auffassung vieler Linker nicht teile, es sei per se falsch, dass ein Staat Geheimnisse habe. Ich finde, demokratische Staaten brauchen Spione.
Der Philosoph Karl Popper, der den Zweiten Weltkrieg von seinem Lehrstuhl in Neuseeland aus beobachtete, gab seinem wi
s beobachtete, gab seinem wichtigsten Werk zur politischen Theorie einen großartigen Titel: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Und tatsächlich haben wir ja Feinde, Todfeinde sogar: Feinde, die sich wünschen, Sie, die Sie jetzt diesen Text lesen, wären tot – allein aus dem Grund, weil Sie Teil einer Gesellschaft wie unserer sind. Wir haben Feinde, die versuchen, in die Computer unserer Regierungen einzudringen, Feinde, die in der Lage wären, unsere Infrastruktur lahmzulegen. Wir haben Feinde, deren erklärtes Ziel es ist, so viele von uns wie möglich zu töten. Und wir haben die gewöhnlichen Schwerverbrecher, die es zu schnappen gilt.All das sehe ich ein. Mir ist nicht wohl dabei, wenn der Staat Methoden der elektronischen Überwachung nutzt, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Aber mir ist klar, dass er es macht. Und dass sein Interesse an Sicherheit auf Kosten unserer Privatsphäre und unserer Rechte geht. Die Woche, die ich damit zubrachte, Dinge zu lesen, die kein Außenstehender hätte lesen sollen, war in dieser Hinsicht weitgehend beruhigend. Das Meiste von dem, was der GCHQ macht, ist genau das, was wir von ihm erwarten. Er beobachtet Krisengebiete wie das Horn von Afrika, den Iran und Nordkorea. Es sorgt sich um die Energiesicherheit, um die Verbreitung von Nukleartechnologie und um Hackerattacken."Strategische Überwachung"Die Überwachung scheint auch größtenteils auf bestimmte Personen oder Handlungen gerichtet und damit nicht an sich bedrohlich. So sieht es selbst Julian Assange, der in seinem Buch Cypherpunks schreibt: „Die Bedrohung liegt nicht in der gezielten individuellen Überwachung.“Schwierig sind aber die Grenzbereiche, die aus gutem Grund im Mittelpunkt der Snowden-Enthüllungen stehen. Das Problem ist die massenhafte Datenerfassung, auch „strategische Überwachung“ genannt. Es ist die Art von Bespitzelung, bei der von allen und überall Daten abgesaugt werden: Telefon- und Internetnutzung, E-Mails und aufgesuchte Websites, soziale Netzwerke, Chats und Skype-Gespräche, sogar Videospiele – kurz gesagt: alles, was digital ist.Daraus ergibt sich etwas Neues in der Menschheitsgeschichte: Mit ein paar Mausklicks kann ein Staatsbediensteter Ihr Telefon abhören, Ihre E-Mails lesen, die Daten Ihrer Kreditkarten oder Ihre Adresse ermitteln und jede Anmeldung bei Internetdiensten verfolgen. Der Staat ist imstande, auf Ihre gesamte Kommunikation zuzugreifen, Informationen über jeden Menschen zu sammeln, mit dem Sie kommunizieren, und Sie jederzeit online wie offline zu orten. Er kann praktisch alles über Sie herausfinden.Um sich die Tragweite bewusst zu machen, bedenke man, dass der Staat früher dafür Telefone per Hand verwanzen, in Wohnungen einbrechen, Briefe abfangen und Teams von ausgebildeten Beschattern einsetzen musste. Und selbst dann war die Methode noch grob und unpräzise, anfällig für alle Arten von Irrtümern und Gegenmaßnahmen. Heute verfügt der Staat über etwas viel Besseres – eine beispiellose Palette von Überwachungsmöglichkeiten, die sekundenschnell anwendbar ist.Livestream der SuchanfragenDie Allgegenwart des Computers hat das Leben grundlegend verändert. Viele von uns verbringen den Großteil ihres Arbeitstags am PC. In unserer Freizeit ist das Digitale nicht minder präsent. Einmal war ich in den Londoner Büros von Google zu Besuch, wo ein riesiger Flachbildschirm einen Livestream von Suchanfragen zeigt. Die meisten waren gerade auf Japanisch. "Rezepte", sagte meine Gastgeberin, die Japanisch spricht, nach einem Blick auf die Uhr: "In Japan ist es jetzt sieben Uhr abends, die Leute kommen von der Arbeit und überlegen, was sie kochen sollen."Aus den Papieren des GCHQ spricht der Ehrgeiz, auf alles Digitale restlos zugreifen zu können. So denken und arbeiten Techniker: Sie suchen nach neuen Möglichkeiten. Wenn es ihnen dabei um Leute geht, die uns Übles wollen, ist nichts dagegen einzuwenden. Aber stellen wir uns die hypothetische Fähigkeit vor, jeden beliebigen Raum durch eine Steckdose abzuhören. Die Haltung der GCHQ-Techniker ist: Wenn wir es könnten, würden wir es tun. Und da draußen laufen ein paar Leute herum, bei denen es in der Tat wünschenswert wäre, sie per Steckdose zu belauschen. Der Preis dafür wäre aber: ein totaler Überwachungsstaat.In welche Richtung bewegen wir uns? In Großbritannien gibt es heute mehr Überwachungskameras als irgendwo sonst auf der Welt, und zwar bei Weitem. Schätzungen gehen von zwei Millionen Kameras aus. Hinzu kommt Software zur Gesichtserkennung, die laufend verbessert wird. Und das Überwachungspotenzial, das im „Internet der Dinge“ liegt, also im Einbau internetfähiger Computerchips in alles Mögliche: von Autos über Kühlschränke bis hin zu Pflanzen, die dann per Twitter daran erinnern, dass sie gegossen werden müssen.Twitternde PflanzenDieses Potenzial erlaubt nicht nur einen Zugriff auf äußerliche Daten – Aufenthaltsorte, Gespräche, Adressbücher –, sondern vielfach auch auf das, was in unseren Köpfen vorgeht. Ich nenne es den „Wissen-dass-du-schwul-bist“-Test. Die meisten von uns kennen Menschen, die irgendwann den Mut aufbrachten, sich zu ihrer Homosexualität zu bekennen, bloß um von Freunden gesagt zu bekommen: „Das war uns doch seit Jahren klar.“ Heute haben Suchmaschinen Einblick in unsere Gedanken, lange bevor irgendwer anders davon erfährt. Google weiß nicht nur, dass du schwul bist, bevor es deine Mutter weiß. Es weiß, dass du schwul bist, bevor du selbst es weißt. Und damit weiß es auch der GCHQ.Immer wieder wird in den Dokumenten betont, dass der GCHQ „im Rahmen des Gesetzes agiert“ und dass eine Überwachung stets „gerechtfertigt, unabdingbar und verhältnismäßig“ sein muss. Wäre ja auch beängstigend, wenn nicht. Doch wenn der GCHQ nur selten das Gesetz bricht, dann weil das Gesetz so breit formuliert ist, dass es sich kaum brechen lässt.Die Dokumente nennen die nationale und die öffentliche Sicherheit sowie Kapitalverbrechen als die drei Gründe, aus denen der GCHQ schnüffeln darf. Es findet sich aber auch noch eine erschreckende Ergänzung: „Nur drei zurzeit. Gut möglich, dass der Aufgabenbereich des GCHQ künftig verändert wird.“ Mir lief es kalt den Rücken runter, als ich das las. „Nur drei zurzeit“, also nur drei Gründe, aus denen der GCHQ das Recht auf Privatsphäre verletzen darf. Doch es könnte legal werden, dass er eines Tages auch zur „Vermeidung von Unordnung“ oder zum „Schutz von Gesundheit oder Sittlichkeit“ tätig wird.Der totalitäre Staat in George Orwells 1984 brauchte keine breitere Rechtsgrundlage als diese – sie erlaubt der Regierung alles zu tun, was sie will. Seit ich an diesen Punkt gelangte, bin ich überzeugt, dass Snowdens Enthüllungen nicht nur interessant, sondern unbedingt notwendig sind. Denn der Staat verschafft sich gerade eine Macht, wie sie kein Staat jemals zuvor hatte. Und wir brauchen eine Debatte darüber, wie sich diese Macht begrenzen lässt.Foucault hatte RechtWas sich hier abzeichnet, erinnert an das „Panoptikum“, das Denker der Aufklärung als ideales Gefängnis entwarfen und über das Michel Foucault in seinem Buch Überwachen und Strafen schrieb: „Wer einem Feld der Sichtbarkeit ausgesetzt ist und davon weiß, übernimmt die Verantwortung für die Zwänge der Macht. Er bewirkt, dass sie mit ihm spielen, wie sie wollen. Er schreibt sich selbst die Machtverhältnisse ein, in denen er beide Rollen zugleich innehat. Er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“ Als ich Foucaults Analyse des Panoptikums erstmals las, dachte ich: brillant, aber stark übertrieben. Nun sieht es so aus, als sei genau dies der Plan. Aus unserer Gesellschaft droht ein gigantisches Panoptikum zu werden.„Wer unschuldig ist, hat nichts zu befürchten“, sagt der britische Außenminister William Hague. Doch wer bestimmt, wer unschuldig ist? Wer bestimmt, was dem „wirtschaftlichen Wohl“ des Landes zuwider läuft? Wenn die Unschuldigen nichts zu befürchten haben, warum liest der Staat so viele E-Mails, saugt so viele Daten von unseren Telefonen und Rechnern? Was ein Polizeistaat ist, wird oft missverstanden. Es ist kein Staat, in dem überall Polizisten in schweren Stiefeln herumstampfen, sondern ein Staat, in dem die Polizei tun kann, was sie will. Entsprechend ist ein Sicherheitsstaat ein Staat, in dem der Sicherheitsapparat macht, was er will.Was tun? Mein Vorschlag ist eine digitale Bill of Rights. Die wichtigste Klausel darin wäre, dass digitale Überwachung ebenso strengen Regeln unterworfen wird wie das Abfangen von Briefen und das Anzapfen von Telefonen. Keine Schlupflöcher mehr für massenhaftes Absaugen von Kommunikationsdaten. Der Staat hat kein generelles Zugriffsrecht auf unser digitales Leben.
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