„Wir sind kein Trend“

Modelle Statt den binären Geschlechterrollen zu entsprechen, verstehen einige junge Leute ihre Gender-Identität als fließend
Ausgabe 01/2017

An manchen Tagen fühlt sich Daniela Esquivel Asturias, 21, morgens beim Aufwachen weiblich, zieht ein Kleid an und trägt Lippenstift auf. An anderen Tagen empfindet sie/er sich als viel maskuliner und hat nicht die geringste Lust auf Make-up, Strumpfhosen oder Schmuck. „Ich würde mich in einem männlichen Körper genauso wohl fühlen wie in einem weiblichen. Meine männliche Persönlichkeit ist kontaktfreudiger als meine weibliche. Ich habe maskuline und feminine Energien und an manchen Tagen eine Mischung aus beidem“, erzählt Asturias.

Asturias studiert in Costa Rica und ist Gender-fluid, identifiziert sich also nicht mit einem der beiden sozialen Geschlechter, sondern wechselt zwischen diesen hin und her. Manchmal fühlt sie/er sich männlicher, manchmal weiblicher. Es sei schwer zu erklären, sagt Asturias: „Das eine Ende steht für männlich, das andere für weiblich, und als Mensch mit fließender Gender-Identität bewegt man sich zwischen diesen beiden Polen und bleibt für gewöhnlich in der Mitte.“

Aufgeschlossene Millennials

Das ist nur eine der persönlichen Geschichten, die dem Guardian im Rahmen einer Umfrage zugeschickt wurden, bei der Millennials aufgefordert wurden, ihr soziales Geschlecht zu beschreiben. Junge Leute stellen konventionelle Gender-Stereotype zunehmend infrage – die Hälfte aller um die Jahrtausendwende Geborenen, die im Rahmen einer Studie in den USA befragt wurden, sind der Ansicht, dass Gender nicht allein auf männlich oder weiblich beschränkt ist.

Facebook bietet schon seit längerem benutzerdefinierte Gender-Identitäten an, die eine ganze Reihe von Möglichkeiten wie etwa „androgyn“ umfassen. Und in den USA akzeptieren einige Universitäten Gender-neutrale Pronomen – die Studierenden haben das Recht, dass man sich mit they auf sie bezieht anstatt mit he oder she.

Im Rahmen der Guardian-Umfrage haben wir 914 Rückmeldungen aus 65 Ländern erhalten und ausgewertet. Der Großteil der Beiträge kam aus Großbritannien (302), gefolgt von den USA (209) und Kanada (78). Das Alter der Teilnehmer lag im Schnitt bei 22 Jahren. Manche erzählten, dass sie sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei ihrer Geburt zugeschrieben wurde, wohl fühlen, andere empfinden sich dagegen als a-, trans- oder multigender.

Viele, die sich gemeldet haben, erzählen, dass sie ihre Gender-Identität zu verschiedenen Zeitpunkten in ihrem Leben entdeckt haben. Für Jo, 25, eine Cis-Frau aus Großbritannien, war ihre Gender-Identität zum Beispiel schon immer klar. „Ich bin definitiv eine Frau. Ich wüsste nicht, wie ich mich sonst definieren sollte. Das war für mich keine Wahl, sondern eher eine Tatsache des Lebens. Wir werden als Männer oder Frauen geboren. Manche jungen Leute sehen das anders, was die Welt kulturell mit Sicherheit verändern wird.“

Ham, 20, wurde in eine muslimische Familie in Großbritannien hineingeboren und entdeckte seine/ihre androgyne Gender-Identität schrittweise. „Das hat sich im Laufe der vergangenen Jahre hauptsächlich durch die sozialen Medien und Blogs entwickelt. Ich fing an zu entdecken, dass es unterschiedliche Sichtweisen auf das Geschlecht gibt, und konnte deshalb immer besser darüber reden, wie ich mich fühle.“

Ham hat sich entschieden, den muslimischen Glauben abzulegen. Es sei aber viel schwerer, der Familie zu sagen, dass sie/er sich a- und bisexuell fühlt. „Es ist wesentlich unwahrscheinlicher, dass sie das ebenso akzeptieren würden.“

Mike, 32, hat sich schon immer als Frau gefühlt, seiner Frau aber erst vor kurzem offenbart, dass er transgender ist. Er beziehungsweise sie sagt, dass sie es einfach nicht mehr länger aushielt, ihre wahre Identität zu verbergen. „Zuerst war meine Frau ziemlich schockiert, doch sie unterstützt mich und erlaubt mir, mich im Haus oder auch draußen, wo niemand mich kennt, so zu geben, wie ich eigentlich bin. Jetzt, wo ich diese Büchse geöffnet habe, habe ich ständig Schuldgefühle und bin unsicher in Bezug auf das, was ich meiner Frau antue – und was die Leute wohl von mir denken werden.“

Hätte er niemanden, der ihn liebe, dann würde er sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen, sagt Mike. „Da ich aber nicht allein bin, muss ich das Beste aus meiner Situation machen. Würde ich mich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen, würde ich meine Frau verlieren. Und sie ist der einzige Mensch, der sich wirklich um mich und unser Kind sorgt.“ Im Augenblick kleidet Mike sich zu Hause als Frau und trägt sein Haar länger, um sich femininer zu fühlen.

Die Geschlechtsidentität von Payton Quinn, 24, ist hingegen ständig in Bewegung. Als Teenager fühlte Quinn sich zu maskuliner Kleidung hingezogen. „Ich habe mir die Haare kurz geschnitten und angefangen, mir die Brust abzubinden. Ich versuchte mein Bestes, um als Mann durchzugehen.“ Davon fühlten manche sich provoziert, sie suchten Streit und verletzten Quinn schwer. Danach sah Quinn sich gezwungen, sich in der Öffentlichkeit wieder als Frau zu geben. Seitdem Quinn vor zwei Jahren eine neue Beziehung eingegangen ist, fühlt er/sie sich wieder stark genug, als Mann auf die Straße zu gehen.

Prominente Vorbilder

„Meine Freunde begannen allmählich, sich mit männlichen Pronomen auf mich zu beziehen. Als mich dann jemand ausdrücklich als Mann bezeichnete, fühlte ich mich aber ebenfalls unwohl. War ich mir wirklich sicher?“ Da erfuhr Quinn von Gender-Fluidity. „Ich würde sagen, ich bin Gender-fluid, aber zugleich auch nichtbinär und transgender. Mein soziales Geschlecht ist eine Sache, die sich ständig weiterentwickelt, wie meine Sexualität auch. Je mehr ich entdecke, desto mehr entwickelt sich fort. Der einzige Grund, warum ich das Gefühl habe, ich sollte es mit einem Etikett versehen, ist, es anderen leichter zu machen.“

In den vergangenen Jahren gab es Fortschritte, was Sichtbarkeit und Rechte von transsexuellen Menschen angeht, aber viele, die sich auf die Umfrage hin gemeldet haben, sprechen von den Schwierigkeiten, mit denen junge Transsexuelle noch immer zu kämpfen haben. Parker Dell, 24, ein Transmann aus Großbritannien, meint, dass die Präsenz von Transgendern in den Medien auch Schattenseiten habe. „Caitlyn Jenner ist nur ein weiterer Reality-TV-Star, aber sie bringt die Leute dazu, über Transgender und Transsexuelle zu reden – bloß nicht immer auf eine positive Art. Die Wartezeiten in Kliniken für geschlechtsangleichende Operationen haben sich im vergangenen Jahr um ein Vielfaches erhöht, weil vielen auf einmal klar wurde, dass sie transgender sind. Dass das Angebot die Nachfrage bei weitem nicht befriedigen kann, ist das eine. Eine andere Folge ist es, dass jungen Leuten vorgeworfen wird, sie würden lediglich Prominente imitieren.“

Während mehr role models eine gute Sache seien, sei die Vorstellung, ein junger Mensch entscheide sich dafür, transgender zu „werden“, weil das gerade in Mode sei (in dem Zusammenhang ist auch von „transtrender“ die Rede), dumm und verletzend. „Das ist etwas, mit dem zu viele junge Leute zu kämpfen haben.“

Alexis Strazds, 23, aus Kanada ist eine Spätentwicklerin in Sachen Transsexualität. „Es wurde mir klar, als ich über die Bilder von Transsexuellen stolperte, die sie vor und nach ihrer Geschlechtsumwandlung zeigen. Ich habe mir ein paar davon angesehen und gemerkt, dass ich diese Frauen beneidete. Da wurde mir klar, dass das wohl etwas zu bedeuten hat.“ Im Laufe der vergangenen Jahre habe ihre Gender-Identität sich weiterentwickelt und die Veränderung hin zu dem, was sie heute sei, „war zwar manchmal hart, fühlt sich aber wirklich großartig an. Ich habe jetzt das Gefühl, wirklich und wahrhaftig zu leben, zu wachsen und mich selbst zu finden.“

Strazds hat teils auch Stigmatisierung erfahren. „Die meisten Leute, die Angst vor Transsexuellen haben, meiden mich einfach. Hin und wieder gerät man natürlich auch an unfreundliche Leute, aber das war es auch schon. Die meisten Menschen in meinem Leben sind queer und in Sachen Gender sehr aufgeschlossen und liberal.“

Kyle McQuillan, 27, aus den USA ist ein schwuler Mann, wurde aber als Frau geboren. „Manchmal fühle ich mich mehr Gender-fluid, doch niemals weiblich. So ist das schon mein ganzes Leben lang.“ Er sagt, in den vergangenen sechs Jahren habe sich viel getan, es sei aber noch nicht genug. „Man betrachtet mich nicht mehr wie einen psychisch Kranken, aber ich brauche auch mit Obamacare noch immer vier Briefe, damit ein Chirurg mir die Brüste entfernt, ich muss zu zwei Amtsärzten und zwei staatlich zugelassenen Therapeuten gehen. Natürlich wartet man dadurch Monate. Es kommt dann auf den einzelnen Therapeuten an, wie lange die eigentliche Beratung dauert.“ Es stelle auch eine große Herausforderung dar, sich als Transmann mit Frauen zu treffen, weil die Gefahr bestehe, als lesbisch missverstanden zu werden, fügt McQuillan hinzu. „Ich kenne ähnliche Geschichten. Es gibt aber auch Leute, die sich in der schwulen Community für uns starkmachen. Ich wollte zusammen mit einem transsexuellen Freund in einen Strip-Club und man sagte uns, wir sollten zur Ladies’ Night kommen, wenn wir uns einen Lapdance ansehen wollten. Da hat sich ein schwuler Freund, der auch eine Dragqueen ist, für uns eingesetzt. Selbst in der Gay Community erleben wir Diskriminierung. Aber je mehr unsere Stimmen gehört werden, desto mehr Akzeptanz erfahren wir.“

Die Generation Y wird gern auch als die Gender-fluide Generation bezeichnet – Orange-Is-the-New-Black-Star Ruby Rose und Pop-Sängerin Miley Cyrus definieren sich beide in dieser Weise. Bei der Guardian-Umfrage haben sich 104 Menschen gemeldet, die sich mal mehr, mal weniger Gender-fluid fühlen. Für manche von ihnen bedeutet das sogar, zwischen einer ganzen Reihe von Geschlechtern hin und her zu wechseln. Cam, 20, aus Irland kennt sogar zehn verschiedene Gender-Identitäten, einschließlich männlich, weiblich, bi- und agender. „Vor kurzem habe ich von fluid-flux gehört. Das passt zu mir, denn ich empfinde mehrere Gender-Identitäten, allerdings in unterschiedlicher Intensität.“

Cam ist einer von vielen jungen Menschen, die Fragen stellen. Diese Bereitschaft, Gender-Diversität anzuerkennen, ist bei den Millennials stärker ausgeprägt als bei älteren Generationen. Eine Mehrheit der Befragten war der Ansicht, anders auf das Thema Geschlechteridentität zu blicken als ältere Generationen.

Clo, 23, aus den USA definiert sich als transmaskulin, Gender-fluid, nichtbinär und queer-trans – sie/er sagt, seine/ihre Familie könne akzeptieren, was Clo sei. „Nur weil die Begriffe, die uns beschreiben, neu sind, denken die Leute, nichtbinär sei eine Mode-Erscheinung. Dabei haben Menschen schon immer nichtbinär gefühlt und gelebt. Es gibt jetzt eben eine Bezeichnung dafür. Und hinter dieser Bezeichnung steckt eine Community, Menschen, die dich respektieren und aufmuntern. Wir sind kein Trend. Wir sind Menschen, das ist ein wichtiger Bestandteil unseres Selbstverständnisses. Es verletzt niemanden, unsere Menschlichkeit und Identität anzuerkennen.“

Sarah Marsh ist Community-und Social-Media-Redakteurin des Guardian

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Sarah Marsh | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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