Wir werden erstickt und ersticken uns selbst

Frauen Unsere Autorin erklärt, warum sie aus Prinzip nie schlecht über eine andere Frau sprechen würde
Ausgabe 13/2018
Das Leben als Frau ist von permanenten Widersprüchen und untragbaren Aufgaben geprägt
Das Leben als Frau ist von permanenten Widersprüchen und untragbaren Aufgaben geprägt

Foto: Fox Photos/Getty Images

Ich weigere mich aus Prinzip, schlecht über eine andere Frau zu sprechen, selbst wenn ihr Verhalten inakzeptabel, verletzend oder ärgerlich war. Der Grund für meine Haltung ist, dass mir die Situation von Frauen in dieser Welt bewusst ist. Nicht nur, weil es meine eigene ist – ich beobachte auch andere, und ich weiß, dass es keine Frau gibt, die nicht jeden Abend eine enorme Anstrengung hinter sich hat, die sie in die Verzweiflung treiben könnte. Arm oder wohlhabend, unwissend oder gebildet, schön oder hässlich, berühmt oder unbekannt, verheiratet oder Single, arbeitend oder arbeitslos, mit Kindern oder ohne, rebellisch oder angepasst – wir alle sind tief von einer Art und Weise weiblichen Daseins geprägt, die – selbst wenn wir sie als die unsrige beanspruchen – schon an der Wurzel durch Jahrtausende männlicher Vorherrschaft vergiftet ist.

Das Leben als Frau ist von permanenten Widersprüchen und untragbaren Aufgaben geprägt. Alles, wirklich alles ist auf männliche Bedürfnisse hin festgeschrieben – selbst unsere Unterwäsche, Sexualpraktiken, Mutterschaft. Wir müssen uns in unserem Frausein nach Rollenmustern und Vorgaben richten, die Männer glücklich machen. Gleichzeitig müssen wir Männer konfrontieren, im öffentlichen Raum mit ihnen konkurrieren, sie größer und besser machen, als sie sind, und vorsichtig sein, um sie nicht zu verärgern.

Eine junge Frau, die ich sehr schätze, sagte einmal zu mir: „Mit Männern ist das immer so ein Problem. Ich musste lernen, es nie zu übertreiben.“ Sie meinte, dass sie sich selbst kontrolliert, um nicht zu schön, nicht zu intelligent, nicht zu zuvorkommend, zu unabhängig, zu großzügig, zu aggressiv oder zu nett zu sein. Wenn eine Frau irgendetwas „zu sehr“ ist, bringt das heftige Reaktionen von Männern hervor und zusätzlich noch die Feindschaft anderer Frauen, die immerzu gezwungen sind, miteinander um die von Männern hinterlassenen Brotkrumen zu konkurrieren. Das „zu viel“ von Männern dagegen bringt allgemein Bewunderung und Machtpositionen.

Die Konsequenz daraus ist nicht nur, dass weibliche Macht ständig erstickt wird, sondern dass wir uns – um des lieben Friedens willen – selbst ersticken. Auch heute noch – nach einem ganzen Jahrhundert Feminismus – können wir nicht ganz wir selbst sein, gehören wir uns nicht selbst. Unsere Fehler, unsere Grausamkeiten, unsere Verbrechen, unsere Freuden, selbst unsere Sprache – all das ist gehorsam eingeschrieben in die männlich bestimmten Hierarchien, wird nach Kodizes bestraft oder gelobt, die nicht die unsrigen sind und die uns daher auszehren. Diese Verfasstheit macht es anderen leicht, uns verachtenswert zu finden – und uns selbst auch. Wenn wir mit dem Anspruch von Autonomie zeigen wollen, was wir sind, müssen wir schonungslos wachsam gegenüber uns selbst sein.

Daher fühle ich mich allen Frauen nahe, manchmal aus dem einen Grund, manchmal aus einem anderen. Ich erkenne mich in den besten von ihnen wieder, genauso wie in den schlechtesten. Immer mal wieder werde ich gefragt: Kann es wirklich sein, dass Sie kein echtes Miststück kennen? Natürlich kenne ich solche Frauen: Die Literatur ist voll von ihnen, und das richtige Leben auch. Aber alles in allem bin ich doch auf ihrer Seite.

Elena Ferrante ist Autorin der Neapolitanischen Saga und Kolumnistin des Guardian

Übersetzung: Carola Torti

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Geschrieben von

Elena Ferrante | The Guardian

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