Wir werden keinen Rückzieher machen

Katalonien Der Oberste Gerichtshof hat neun meiner Mitstreiter ins Gefängnis geschickt. Diese skandalöse Entscheidung wird sich für den spanischen Staat noch rächen
Für Carles Puigdemont sind die Urteile unfair und inhuman
Für Carles Puigdemont sind die Urteile unfair und inhuman

Foto: Kenzo Tribouillard/AFP/Getty Images

Ausgelöst durch die Entscheidung des spanischen Obersten Gerichtshofs ist der katalanische Unabhängigkeitskampf in eine neue Phase getreten. Das Gericht verhängte am Montag drastische Haftstrafen gegen neun Demokraten und Anführer der Zivilgesellschaft, weil sie ein Referendum über die Selbstbestimmung in Katalonien organisiert haben. Bereits seit mehr als einem Jahr appellieren Katalanen an die spanische Regierung unter Ministerpräsident Pedro Sánchez, zu intervenieren und zu versuchen, eine friedliche Lösung für die Krise zu finden. Dagegen bedeutet dieses Urteil: Eskalation, die in der ganzen Region für Ärger sorgen wird.

Den Forderungen extrem rechter Kräfte in Spanien folgend verhängte das Gericht niederschmetternde Haftstrafen für neun Mitglieder der Regierung, die führen zu dürfen ich das Privileg hatte. Ich kenne diese Leute gut. Sie sind engagierte Demokraten, die sich der Sache eines friedlichen Wandels der fragilen spanischen Post-Franco-Verfassung verschrieben haben. Unter ihnen sind der Sprecher des katalanischen Parlaments und die Präsidenten der beiden wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen, Omnium und ANC. Sie alle sind Pazifisten und Liberale.

Einige Mitglieder der Regierung, darunter auch ich, entschieden sich, ins Exil zu gehen, um der Verfolgung zu entgehen und in der Lage zu sein, die Rechte der Katalanen effektiver zu verteidigen. Wie das Urteil zeigt, wären wir andernfalls ebenfalls einem unfairen Gerichtsprozess durch eine politisierte Judikative unterworfen worden, ohne die Möglichkeit, die falschen Anschuldigungen gegen uns zu widerlegen. Stattdessen wurde uns in anderen europäischen Ländern Unterschlupf und Schutz gegen Spaniens Versuche gewährt, uns aus Belgien, Deutschland und Schottland auszuliefern. Die Anträge auf Auslieferung wurden abgelehnt oder fallen gelassen, weil die Vorwürfe als rein politisch erachtet werden. Moderne pluralistische Demokratien schützen das Recht auf politische Organisation, friedliche politische Meinungsäußerung und Zusammenschluss. Aber genau dafür wurden unsere neun Kollegen ins Gefängnis geschickt. Was Spanien verurteilt, wird von der europäischen Demokratie freigesprochen.

Eine internationale Frage

Die Handlungsweise des spanischen Staates, seiner Regierung und seiner Justiz stechen zu einem Zeitpunkt ins Herz unserer demokratischen Werte, da Europa sie am meisten braucht. Das darf nicht länger als interne Angelegenheit Spaniens behandelt werden oder auch nur als eine der Institutionen der EU. Es ist eine internationale Frage.

Anfang des Jahres wurde der Fall der katalanischen politischen Gefangenen vor die Vereinten Nationen gebracht. Leiter des internationalen Juristen-Teams, das die Katalanen vertrat, war der britische Rechtsanwalt und ehemalige UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte Ben Emmerson QC. In zwei sorgfältig argumentierten Entscheidungen vertrat die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung die Meinung, dass die Festsetzung der neun Politiker und Politikerinnen vor dem Gerichtsprozess eine Verletzung internationalen Rechts darstellt. Sie sah darin einen klaren Bruch der rechtlichen Verpflichtung Spaniens im Rahmen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt). Aber die Arbeitsgruppe ging darüber noch hinaus. Sie befand, jegliche Verhängung von Hafturteilen am Ende des Prozesses verstoße gegen internationales Recht. Sie forderte Spanien auf, die Inhaftierten sofort frei zu lassen und eine unabhängige Untersuchung einzuleiten, um die Beamten zu identifizieren, die für den willkürlichen Freiheitsentzug verantwortlich sind und sie zur Rechenschaft zu ziehen. Nichts weniger verlangt das Rechtsstaatsprinzip.

Anstatt die Ermahnung ernst zu nehmen, begannen die spanischen Behörden, die UN zu verunglimpfen, warfen der Arbeitsgruppe Parteilichkeit vor und hinterfragten ihre Entscheidung. Das Oberste Gericht ignorierte die UN-Entscheidung und hat jetzt Urteile ausgesprochen, die darauf abzielen, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung zu zerschlagen – die vor Gericht stehenden Individuen zu brechen und in ihren Millionen Unterstützern Furcht zu säen. Das ist die Realität der modernen spanischen Demokratie.

Das Oberste Gericht räumte der neo-frankistischen Partei Vox einen aktiven Part im Gerichtsverfahren ein. Sie durfte die Angeklagten persönlich befragen. Die extreme Rechte in Spanien hält die katalanischen Unabhängigkeitsparteien zu Recht für eine Bedrohung. Den ganzen Prozess über war die politische Botschaft klar. Hier versichert sich das alte Spanien seiner selbst. Nie wirklich den Menschenrechtswerten des Europarats und der Europäischen Union verpflichtet, haben dunkle Kräfte begonnen, sich wieder durchzusetzen, und zwar voll geduldet von Regierung und Judikative.

Die Implikationen für die Demokratie werden weit über Spanien hinaus zu spüren sein. Im August beispielsweise versuchte der türkische Innenminister, die Verfolgung gewählter kurdischer Politiker zu legitimieren, indem er die Schritte der spanischen Regierung gegen Pro-Unabhängigkeits-Politiker in Katalonien als Präzedenzfall anführte. Indem sie bei der politischen Unterdrückung in Katalonien wegschaut, hat die EU dem Erdoğan-Regime in die Hände gespielt, das just in diesem Moment im Nordosten von Syrien Zivilisten tötet.

Keine einzige konstruktive Alternative

Es sind zwei Jahre vergangen, seit die Unterdrückung begann, seit ein demokratisch gewähltes Parlament aufgelöst und eine Regierung mit einer parlamentarischen Mehrheit per Dekret abgesetzt wurde. Während der ganzen Zeit hat die spanische Regierung nicht einen einzigen politischen Vorschlag als konstruktive Alternative zur Forderung nach voller Unabhängigkeit Kataloniens vorgelegt. Nach vier Wahlen in ebenso vielen Jahren ist Spaniens Regierung nicht in der Lage, eine kohärente politische Position einzunehmen. Stattdessen manövriert sie sich zunehmend in eine schwierige Lage.

Trotz der anhaltenden Verfolgung der Unabhängigkeitsbewegung erhielten die für die Unabhängigkeit eintretenden Parteien in Katalonien bei den europäischen Parlamentswahlen im Mai eine nie dagewesene starke Unterstützung der Wähler. Im Laufe der zwei Jahre der Unterdrückung – mit Politikern im Gefängnis und im Exil sowie der Furcht der Bürger vor einer brutalen Staatsmacht – ist die Unabhängigkeitsbewegung an der Wahlurne stärker denn je. Die Bewegung geht heute weit über ihre politischen Anführer hinaus. Sie umfasst die gesamte katalanische Gesellschaft und wurzelt in der liberalen Tradition des demokratischen Radikalismus.

Die Entscheidung von Montag ist nicht nur eine Verurteilung der einzelnen Angeklagten, sondern von mehr als zwei Millionen Menschen, die das Referendum zu einer Realität gemacht haben. Die Entscheidung, die politischen Führer mit Haft zu bestrafen, weil sie den demokratischen Willen der Katalanen umsetzten, wird sich unausweichlich gegen Spanien wenden. Jetzt gibt es nur noch einen möglichen Weg, den die katalanische Nation verfolgen kann. Wenn Katalonien überleben und seine Institutionen und Kultur schützen will, muss es ein unabhängiger Staat in Form einer Republik werden. Einen Rückzieher werden wir niemals machen.

Carles Puigdemont i Casamajó war Präsident von Katalonien

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Carles Puidgemont | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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