Wir wollen einfach eine Zukunft

Nahost Die palästinensischen Demonstranten wollen den Staat Israel weder abschaffen noch negieren. Sie wollen lediglich, dass ihre Stimme gehört wird
Palästinensische Demonstranten an der Grenze des Gaza-Streifens am 20. April 2018
Palästinensische Demonstranten an der Grenze des Gaza-Streifens am 20. April 2018

Foto: Mohammed Abed/AFP/Getty Images

Am ersten Freitag des sogenannten "Großen Marsches der Rückkehr" ging ich mit meinen beiden jüngsten Kindern, Yasser und Jaffa, an die Grenze zwischen Gaza und Israel. Ich habe meine einzige Tochter nach der Stadt benannt, in der ich hätte zur Welt kommen sollen. Das ist eine kleine Tradition unter Palästinensern, insbesondere wenn der Name des Ortes einen ganz besonders eleganten Klang besitzt. Die beiden wedelten beim Gehen mit Palästina-Fähnchen, die sie in ihren kleinen Fäusten hielten. Als er direkt auf den Zaun blickte, fragte Yasser: „Papa, liegt Jaffa hinter diesem Zaun?“ Meine Tochter zeigte sich von dieser Doppeldeutigkeit völlig unbeeindruckt. Als ich in die Richtung eines der israelischen Scharfschützen blickte, der mit seinem Gewehr auf der errichteten Düne lag, die als Grenze fungiert, stellte ich mir vor, wir beide würden uns um die Wette anstarren. Meine Kinder stellen keine Bedrohung für dich dar, versuchte ich mit meinen Augen zu sagen. Wir sind über 300 Meter weit entfernt. Meine Kinder tragen keine Waffen, keine Steine; sie sind nicht hier, um zu kämpfen.

Das ist natürlich ein Tagtraum. Später an jenem Tag und in den Wochen, die folgten, wandten israelische Soldaten extreme Gewalt an, um das Gebiet zu räumen: Tränengas, das von Drohnen abgeworfen wurde, Mörser, scharfe Munition.

"Der große Marsch der Rückkehr", diese friedliche Demonstration des Widerstandes, die die Bewohner des Gaza-Streifens in den vergangenen Wochen an der Grenze abhielten, kulminiert am Dienstag, am 70. Jahrestages dessen, was die Palästinenser die Nakba nennen und die Israelis als Geburt des Staates Israel begehen. Die Proteste an der Grenze haben viel Aufmerksamkeit geweckt. Dutzende wurden getötet – einschließlich Kindern, die kaum Teenager waren, und Journalisten – und Tausende mehr wurden verletzt. International besteht wohl die Sorge, dass die Lage in der Region weiter eskaliert. Während diese Sorge legitim ist, offenbart sie jedoch auch ein grundlegendes Missverständnis der Proteste.

Das Wort nakba bedeutet „Katastrophe“ und bezieht sich auf die Vertreibung von 700.000 Palästinensern aus ihren Städten und Dörfern, die der Ausrufung des israelischen Staates voranging. Die Mehrzahl der Dörfer und Städte wurde zerstört. Für uns war 1948 Jahr Null im kollektiven, unentrinnbaren Alptraum, den alle Palästinenser seitdem durchlebt haben. Alles, was folgte – die Umsiedlung, die Armut, die Kriege, die Ausgangssperren, die Verhöre, die Inhaftierungen, die Intifadas, der Hunger, der Mangel an Grundversorgung (Medikamente, Elektrizität, sauberes Wasser, Bewässerung), die Reisebeschränkungen … jeder Schrecken, der über die Palästinenser gekommen ist, nahm in diesem Moment seinen Ausgang.

Welche Chance hatte Palästina?

Ich hätte in einer der Villen meines Großvaters auf südlichen Strand von Jaffa zur Welt kommen können. Stattdessen wurde ich in einem engen, überfüllten Flüchtlingslager im Norden von Gaza-Stadt geboren. Meine europäischen Freunde sagen oft zu mir: „Na und! Es wurden noch wesentlich mehr Menschen während der beiden Weltkriege vertrieben und haben sich danach aber trotzdem ein gutes neues Leben aufgebaut.“ Das stimmt, aber zumindest waren jene Konflikte beigelegt und ganze Volkswirtschaften wurden wiederaufgebaut. Was von Palästina übrig war, ließ nie ein glückliches Ende zu. Die meisten europäischen Länder, und natürlich die USA, weigerten sich, Palästina überhaupt auch nur als Staat anzuerkennen. Welche Chance hatte es? Selbst Großbritannien, das seine Politik in Palästina nach 1917 dem Ziel widmete, Palästinenser durch jüdische Auswanderer zu ersetzen und so sein eigenes Mandat verletzte, das Land auf die Unabhängigkeit vorzubereiten – erkennt Israel an und weigert sich bis heute, dies auch bedingungslos mit einem palästinensischen Staat zu tun.

Die Heimatstadt meiner Familie war für mich, während ich aufwuchs, nicht völlig verloren. Das Lager, in dem ich lebte – Jabaliya – war (und ist noch immer) in Viertel aufgeteilt, die nach den Städten und Dörfern benannt sind, aus denen ihre Bewohner stammen. So wuchs ich also im Jaffa-Viertel auf, hörte mir Abenteuer-Geschichten vom Leben der Fischer an und Geschichten, die in Orangenhainen spielen – Erinnerungen an das Leben in einer Stadt, die während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den lebendigsten Städten Palästinas gehörte. Ich hatte immer das Gefühl, dass die, die sie erzählten, beim Erzählen konkrete und akute Schmerzen verspürten. Ich stellte mir vor, dass sie irgendwo, wo man es nicht sehen konnte, eine verborgene Wunde hatten, die leise blutete, während sie erzählten. Es war nicht so, dass sie noch immer in der Vergangenheit lebten und die Vergangenheit verfolgte sie auch nicht. Sie waren von ihrer Vergangenheit getrennt worden, hatten sie irgendwie verloren und mussten sich vergewissern, dass sie überhaupt jemals stattgefunden hatte.

Meine Großmutter Eisha war eine dieser Geschichtenerzählerinnen. Als sie gezwungen wurde, ihr geräumiges Haus am Strand gegen ein kleines, weißes Zelt im heißen Sand von Gaza einzutauschen, musste sie für dieses Privileg über 100 Kilometer zu Fuß gehen. Jedes Mal, wenn ich einer ihrer Geschichten zuhörte, hatte ich das Gefühl, es sei meine Pflicht, diese Geschichten weiterzuerzählen und zwar so, wie sie es tat. So kam es, dass ich im Alter von zwölf Jahren meine ersten Schreibversuche unternahm. Ich kritzelte auf ein Blatt Papier eine Version der Geschichte, die sie immer über den Besuch bei ihrem Arzt in Jaffa erzählte. Dann wurde mir klar, dass es noch andere Geschichten gab, die ich an andere weitergeben und die ich weiter ausarbeiten konnte.

Durch die Nakba ist meine Familie über Gaza und Jordanien verteilt, ein paar Verwandte leben auch immer noch in Jaffa. Es wurde zum Ziel meines Schreibens, die Familie wieder zusammenzuführen – zumindest im Geiste. Während Eisha die Wunden der Familie heilte, indem sie Zeugnis ablegte und sich erinnerte, bestand meine Mission darin, die Gegenwart mit Hoffnung zu bewässern. Ich schreibe, damit das Leben dieser Familie weiter nach vorne gerichtet ist. Doch das ist eine sehr persönliche Art des Überlebens. Jeder Palästinenser hat seine eigene Strategie, dafür zu sorgen, dass er und seine Lieben die Hoffnung nicht verlieren. Der "Große Marsch der Rückkehr“ ist eine der seltenen Gelegenheiten, bei der die Menschen eine gemeinsame Strategie gefunden haben, um zu überleben.

Die Stimme der Demonstranten soll gehört werden

Natürlich wissen die Demonstranten, dass niemand irgendwohin zurückkehren wird, wenn dieser Marsch zu Ende ist. Natürlich hat niemand den Plan (oder die Mittel), den Zaun zu entfernen. Und natürlich ist dieser Protest nicht der Versuch, den Staat Israel abzuschaffen oder irgendwie zu negieren. Das zu vermuten, wäre lächerlich. Die Demonstranten wollen lediglich, dass ihre Stimme gehört wird; sie wollen nur, dass die Nakba und die Jahrzehnte voller Rückschläge in die Geschichte der restlichen Welt integriert und nicht einfach abgetan werden. Nur die Hoffnung, eines Tages einen voll anerkannten Staat (mit all den dazugehörigen Freiheiten) zu erhalten, hat die Palästinenser in den vergangenen 70 Jahren am Leben gehalten – durch Kriege, Blockaden, endlose Entwürdigungen und Unsicherheiten. Diese 70 Jahre haben den Gazastreifen in ein Gefängnis verwandelt, in dem alle eine lebenslange Haftstrafe absitzen, genauso wie ihre Kinder und wiederum deren Kinder.

Die Botschaft der Proteste ist einfach: Wir können nicht ewig so leben, selbst nach hundert Jahren werden Palästinenser mit unveräußerlichen Menschenrechten geboren werden, egal, wie sehr sie auch mit Füßen getreten werden. Israel kann nicht erwarten, dass es Frieden, Stabilität und Wohlstand genießt, während wir hier noch immer eingesperrt sind. Der Zaun stellt nicht nur eine physische Grenze zwischen zwei Nationen dar, er ist auch eine konzeptuelle, diskriminierende Linie zwischen zwei Welten, zwei Realitäten. Das Elend der einen Welt ist das Glück der anderen; die Träume der ersten sind bei letzterer unter dem Sand von sieben Jahrzehnten begraben.

Am ersten Tag des "Großen Marsches" habe ich gelacht, als Teenager Fotos von Donald Trumps zerrissen haben. Die USA haben Israel mit Waffen versorgt, seitdem es als Staat existiert, und die Palästinenser wissen nur zu genau, welche Rolle Washington bei der Stärkung und Aufrechterhaltung der Besatzung spielt. Was aber Trumps Entscheidung, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, anders ist, ist, dass sie vollkommen psychologischer Natur ist. Sie hat keine anderen Konsequenzen als zu provozieren.

Die Fragen werden bleiben

Es ist beklagenswert, dass es die internationale Gemeinschaft in dem gesamten Jahrhundert seit der Balfour-Deklaration nicht geschafft hat, die Bedürfnisse des palästinensischen Volkes anzuerkennen und sie lediglich als Feinde des jüdischen Glaubens behandelt. Palästinenser konnten Menschen jüdischen Glaubens schon immer von der israelischen Regierung unterscheiden. Es ist nur ein Jammer, dass die internationale Gemeinschaft nie zu dieser Unterscheidung in der Lage war, wenn es um Kritik an der israelischen Regierung geht. Damit hat die Gemeinschaft gegen die Ethik, die Normen und die Gesetze verstoßen, die sie selbst erlassen hat.

Indem er über jeden Rest eines palästinensischen Narrativs zum Blick der Welt auf Jerusalem hinwegtrampelt, hat Donald Trump die Heuchelei der internationalen Gemeinschaft gegenüber den Palästinensern allzu deutlich aufgezeigt. Indem man es an die große Glocke hängt, so steht es im Drehbuch, kann man damit davonkommen und legt den Grundstock für größere Verbrechen, die noch kommen werden.

In den Neunzigerjahren weigerte sich meine Mutter, die Bedingungen der Osloer Verträge zu akzeptieren. Doch als das Abkommen geschlossen war, ging sie wie alle anderen hinaus auf die Straßen von Jabaliya, um zu feiern. Sie dachte, dass sie nun endlich die Möglichkeit bekäme, ihren Sohn (meinen Bruder Naim) zu umarmen, wenn er aus dem Gefängnis für politische Gefangene entlassen würde. So sah es das Abkommen vor. Diese lang erwartete Umarmung kam nie zustande. Sie starb, während sie darauf wartete, dass das Abkommen umgesetzt wurde. Mit Oslo stimmten die Palästinenser dem absoluten Minimum zu – ein Staat, der aus nur 22 Prozent des Landes zusammengeschustert war, das ihre Mütter und Väter bewohnt hatten. Doch der Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung wurde absichtlich mit Hindernissen, Barrikaden, Checkpoints und Siedlungen blockiert.

Was kommt also als nächstes? Der "Große Marsch der Rückkehr" mag morgen enden, doch die Fragen, die er aufgeworfen hat, werden nicht nur bleiben, sondern auch weiterhin den Druck auf die Mauern des palästinensischen Gefängnisses erhöhen. Ändert sich nichts, ist es schwer vorstellbar, welche neue Richtung diese verzweifelte Nation einschlagen wird – nach einem Jahrhundert der politischen Preisgabe, siebzig Jahren der Vertreibung und – insbesondere für die Bewohner des Gaza-Streifens – elf langen Jahren der Blockade.

Atef Abu Saif ist Politikwissenschaftler und Autor des Buches Frühstück mit der Drohne. Tagebuch aus Gaza

Übersetzung: Holger Hutt

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Atef Abu Saif | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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