Wladimir Putins Annexionsrede: Eher wütender Taxifahrer denn Staatsoberhaupt
Russland 2014 hat Wladimir Putin schonmal eine Rede zu einer Annexion gehalten. Nun will er Russland vier weitere Regionen der Ukraine einverleiben. Es lohnt, die Rede dazu mit der zur Krim zu vergleichen. Und zu lesen, was ein Moskau-Insider sagt
An den Westen gerichtet wiederholt der russische Präsident Wladimir Putin in Moskau seine Drohung eines Einsatzes von Atomwaffen (30.9.2022)
Foto: Dmitry Astakhov/Sputnik/AFP/Getty Images
Achteinhalb Jahre nach der Ankündigung der Annexion der Krim hatte Wladimir Putin die russischen Eliten in der St.-Georgs-Halle des Kreml zur Zeremonie einer weiteren Landnahme versammelt: Diesmal erhob er Anspruch auf vier weitere ukrainische Regionen: Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk. Den Annexionsformalitäten ging eine wütende, weitschweifige Rede voraus, die nur kurz auf die Ukraine oder die vier Regionen einging, die Russland nun für sich beansprucht. Stattdessen beschuldigte Putin den Westen einer Litanei von Sünden, die von der Destabilisierung Russlands im 17. Jahrhundert bis hin zur Zulassung von Operationen zur Geschlechtsumwandlung reichte. Er wiederholte auch seine Drohung eines Einsatzes von Atomwaffen und sagte, die USA hätten 1945 ein
ung reichte. Er wiederholte auch seine Drohung eines Einsatzes von Atomwaffen und sagte, die USA hätten 1945 einen „Präzedenzfall“ für den Einsatz von Atomwaffen geschaffen.Die Rede wird wohl als ein weiterer Meilenstein von Putins langer Herrschaft über Russland in die Geschichte eingehen. Und obwohl es derselbe Saal, dieselbe Menschenmenge und dieselbe Botschaft wie bei der Krim-Annexion im März 2014 war, ist der Kontext diesmal ein ganz anderer.Die Krim, der Irak und der WestenDamals riss Putin einen Großteil der russischen Elite und Gesellschaft auf einer Welle patriotischer Begeisterung mit sich, die durch die Propaganda des staatlichen Fernsehens noch verstärkt wurde. Außerhalb Russlands waren zwar viele über den nackten Landraub schockiert, doch in einer Hinsicht konnte sich Putin der Zustimmung einiger in der Welt sicher sein: Wie kam der Westen dazu, nach Irak-Krieg und Libyen-Bombardement andere über die Verletzung der Souveränität eines Staates belehren? In Europa wollten viele Politiker mit Russland am liebsten so schnell wie möglich wieder zur Tagesordnung übergehen.Diesmal ist die innen- und außenpolitische Lage für Putin weitaus ungünstiger. Im Inland hat er eine unpopuläre Mobilisierungskampagne gestartet, die Hunderttausende von Russen dazu treibt, ihr Land zu verlassen. Die Verbesserungen der Lebensqualität, die die ersten Jahre des Putinismus mit sich brachten, werden durch die Sanktionen und die internationale Isolierung zunichte gemacht.Er will für die nicht-westliche Welt sprechenSeit Februar ist der russische Staatschef international geächtet. Selbst nicht-westliche Staats- und Regierungschefs tadeln seine unverhohlene Aggression in der Ukraine und untergraben damit die in seiner Rede aufgestellte Behauptung, für die gesamte nicht-westliche Welt zu sprechen. 2014 schimpfte er über die Heuchelei westlicher Politiker, die „heute etwas weiß und morgen schwarz nennen“, und viele nickten zustimmend. Heute prangerte er den Westen wütender, aber weniger kohärent an, wirkt mehr wie ein wütender Taxifahrer denn wie ein Staatsoberhaupt. „Sie wollen nicht, dass wir frei sind, sie wollen, dass wir eine Kolonie sind; sie wollen keine gleichberechtigte Partnerschaft, sie wollen uns bestehlen“, sagte er.Putin schimpfte nicht nur auf „Totalitarismus, Despotismus und Apartheid“ des heutigen Westens, sondern erinnerte auch auf die historische Plünderung Indiens, die Bombardierung Dresdens am Ende des Zweiten Weltkriegs und die „vielen Geschlechter“, die im Westen in Mode sind. Russlands Aufgabe sei es, „unsere Kinder vor monströsen Experimenten zu schützen, die ihr Bewusstsein und ihre Seelen zerstören sollen.“Russland sei zu Verhandlungen bereitAndrei Kolesnikov von der Carnegie Endowment for International Peace schrieb auf der Meinungs-Plattform Twitter: „Putins Rede ist eine Aneinanderreihung von unglaublich ungebildeten Verschwörungsfloskeln, wie sie vor 30 Jahren in unbedeutenden national-patriotischen Zeitungen zu lesen waren. Jetzt ist zur Politik der ehemaligen Supermacht geworden, was sich nicht einmal die sowjetische Führung zu ihren Zeiten als Diskurs leisten hätte können.“In Bezug auf die Ukraine erklärte Putin, Russland sei „zu Verhandlungen bereit“, beharrte dann aber sofort darauf, dass die annektierten Gebiete „für immer“ zu Russland gehören würden und nicht Teil von Verhandlungen sein könnten. Die Ukraine hat bereits erklärt, dass sie die Annexionen ignorieren und ihren militärischen Feldzug zur Rückgewinnung von Gebieten fortsetzen wird. Kiew ist der Ansicht, dass ein „Waffenstillstand“ Russland lediglich Zeit geben würde, sich für einen erneuten Angriff zu formieren.Kreml-Sprecher Dmitri Peskow ist ratlosIn seiner Rede im März 2014 hatte Wladimir Putin ausdrücklich ausgeschlossen, weitere Gebiete zu annektieren: „Glauben Sie nicht denen, die versuchen, Ihnen mit Russland Angst zu machen und die schreien, dass nach der Krim weitere Regionen folgen werden ... Wir brauchen das nicht.“ Und doch waren sie 2022 nun hier, zurück in der St.-Georgs-Halle, und klatschten Beifall, als vier weitere von Moskau ernannte Marionettenführer ihre Regionen an Moskau überschrieben.Aber zur Annexion gehört mehr als nur ein Stück Papier, und während Russland 2014 gerade eine schnelle und heimliche Militäroperation durchgeführt hatte, um die Krim zu erobern, sind die Dinge dieses Mal weit weniger eindeutig. In und um alle vier Regionen, die Russland für sich beansprucht, gehen die Kämpfe weiter, was den Mobilisierungsbefehl ausgelöst hat. Putins Rede ließ fast alle wichtigen Fragen über das weitere Vorgehen unbeantwortet. Sein Sprecher Dmitri Peskow konnte am Freitagmorgen nicht sagen, ob Russland die gesamten Regionen Saporischschja und Cherson für sich beansprucht oder nur die Teile, die es bereits kontrolliert, und versprach, dies später zu „klären“. Die Rede ließ darüber keine Unklarheiten aufkommen.Setzt Putin Atomwaffen ein?Die Zuhörer im Oktober 2022, überwiegend ältere Männer mit Sicherheits- und Militärhintergrund, applaudierten ihrem Führer grimmig. Doch viele in der russischen politischen Elite sind entsetzt über den Verlauf der vergangenen Monate, auch wenn sie ihre Kritik nicht öffentlich gemacht haben. Auch sie sind im Unklaren darüber, wie es weitergehen könnte. „Niemand weiß, was als Nächstes passiert, es ist klar, dass es keine große Strategie gibt“, so eine Moskauer Quelle, ein gut vernetzter politischer Insider. „Wenn eine Sache nicht funktioniert, versuchen wir etwas anderes, und niemand weiß, wohin das führen wird. Entscheidungen werden im Kopf eines einzigen Mannes getroffen.“Putin spricht zwar schon seit zwei Jahrzehnten über den Wunsch des Westens, Russland zu zerstören, aber die Intensität und Wiederholung, mit der er das Thema nun behandelte, deutet darauf hin, dass es sich nicht nur um politisches Theater handelt: Er ist zu einem echten Gläubigen geworden. Was dies für die wichtigste Frage von allen bedeutet, bleibt unklar. Macht dieser Eifer es wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher, dass er Atomwaffen einsetzt? Sind seine Drohungen ein Bluff, oder nicht? Auch hier sind die Moskauer nicht besser informiert als der Rest von uns. „Niemand weiß es. Um ehrlich zu sein, bezweifle ich auch, dass er es schon weiß“, so die Quelle.
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