Wladimir Putins Krieg in der Ukraine macht Russland zur kulturellen Einöde
Meinung Zu Beginn von Wladimir Putins Machtübernahme in Russland gewährte sein Regime Schriftstellern eine gewisse Freiheit. Sogar die, den Staat zu kritisieren. Diese Zeiten sind längst vorbei – und Russlands Künstler fliehen
Als Wladimir Putin 1999 an die Macht kam, hatten Künstler in Russland ein hohes Maß an Freiheiten
Foto: Imago/sna
So sehr wie Russland das Land Tolstois und Rachmaninows ist, so sehr ist es auch das Land Stalins und des Lubjanka-Gefängnisses – eine Nation, die ebenso auf Schönheit wie auf dem Blut ihrer Menschen beruht. Die Russen schätzen ihre Kulturgeschichte genauso wie die Menschen in Großbritannien die unsere. Und doch ist es historisch gesehen riskant, in Russland kreativ zu sein, denn ein Ausdruck von Kreativität ist immer auch ein Ausdruck von Freiheit.
In den Jahren der Sowjetunion konnte die Äußerung der eigenen Meinung bedeuten, in einen fensterlosen Raum und dann nach Sibirien gebracht zu werden. Heute sind Russen den gleichen Gefahren ausgesetzt, wenn sie sich gegen Wladimir Putins Krieg in der Ukraine aussprechen. Mit den Worten von Pjotr Stolypin:
Stolypin: „In Russland ändert sich alle zehn Jahre alles, und in 200 Jahren ändert sich nichts.“Im Westen denken wir vielleicht, dass russische Schriftsteller immer mit der Art von Zensur konfrontiert waren, wie der zu Zeiten der Sowjetunion. Wir stellen uns vor, dass Dichter in Kellern erschossen wurden oder sich im sibirischen Schnee zu Tode schuften mussten, nur weil sie ein paar regelwidrige Verse verfasst hatten. Aber das war zu meinen Lebzeiten im Großen und Ganzen nicht der Fall – zumindest nicht bis zum Einmarsch in die Ukraine.Putin gab Schriftstellern zu Beginn literarische FreiheitenUnter Putin wurde den russischen Autoren zunächst ein hohes Maß an Freiheit zugestanden, sogar sich gegen den Staat zu stellen. Als er 1999 an die Macht kam, lernte er aus den Fehlern der Sowjetunion und hatte ein anderes Verhältnis zur literarischen Kultur Russlands. Weit davon entfernt, die Schriftsteller des Landes kontrollieren zu wollen, erkannte Putins Kreml deren politischen Wert. Das heißt, sie hatten einen gewissen Nutzen für das neue Russland, das Putin nach außen hin konstruieren wollte.Der Grund für diese Aufweichung unter Putin war ein doppelter. Erstens war Literatur nicht mehr das wichtigste Medium, das in Russland konsumiert wurde. Was in der Sowjetunion geschrieben und veröffentlicht wurde, hatte echte politische Macht, ebenso wie russische Musik und russische Filme. Stalin war ein begeisterter Leser und sehr an Literatur interessiert, und die Sowjets waren sehr stark in die Zensur jeder Art von russischer Kultur eingebunden. Damit sollte die Bevölkerung glauben gemacht werden, dass der Staat die Wirklichkeit sei und die Wirklichkeit der Staat.Putin und die Schergen, die den Kreml leiten, waren nicht annähernd so eng mit der zeitgenössischen russischen Literaturkultur verbunden wie die Sowjets. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass Putins Kreml sich nicht darum kümmerte, weil er es nicht nötig hatte. Heute werden die meisten Russen vor allem durch das Fernsehen und das Internet beeinflusst. Putin kümmerte sich nicht um die in Russland geschriebenen Romane, denn die Literatur war nicht mehr der Ort, an dem die Menschen ihre Nachrichten und Ideen erhielten.Eine Diktatur neuen Formats Der zweite Grund für Putins historisch gesehen tolerante Haltung gegenüber der russischen Schriftstellergemeinschaft war, dass er bei seinem Machtantritt versuchte, eine andere Art von Diktatur zu errichten. Anstatt wie die Sowjets jeden Aspekt des Lebens der Menschen zu kontrollieren, wollte Putin der Welt – und auch dem russischen Volk – vorgaukeln, dass das Land eine europäische Demokratie sei.Wenn die Frage nach der Legitimität der russischen Demokratie gestellt wurde, konnte der Kreml auf regelmäßige, freie Wahlen, eine freie Presse und eine blühende literarische Kultur verweisen. Es lag in der Tat in Putins Interesse, Schriftstellern – auch und gerade politischen Dissidenten – das freie Schreiben zu ermöglichen.Vor Kurzem sprach ich mit Michail Schischkin, einem bekannten russischen Romanautor und Dissidenten, der heute in der Schweiz lebt. In den späten 90er und frühen 2000er-Jahren arbeitete die Russische Föderation daran, ihre Schriftsteller zu unterstützen und zu exportieren, so Schischkin. Dies war ein offizielles Projekt der Föderalen Agentur für Presse und Massenmedien (Роспечать oder Rospechat). Eine Organisation namens Institut Perevoda unterstützte Verlage finanziell, damit russische Bücher übersetzt und im Ausland gelesen werden konnten. Ziel war es, dem damals noch krypto-autoritären Regime eine ehrbare Fassade, ein menschliches Antlitz zu geben. „Man muss verstehen, dass die neue hybride Diktatur vorgab, ein freies Land zu sein, und mit Schriftstellern auf eine andere Art und Weise arbeitete [als die Sowjets]“, so Schischkin.Placeholder image-1Doch 2013 hatte Schischkin die Nase voll. Er weigerte sich, Russland auf einer internationalen Buchmesse in New York zu vertreten, und schrieb einen offenen Brief an Rospechat, in dem er die politische Klasse seines Landes anprangerte. Er erklärte, dass die russische Regierung „eine Situation im Land geschaffen hat, die absolut inakzeptabel und erniedrigend für sein Volk und seine großartige Kultur ist“, und dass er sich „schämt“, ein Bürger Russlands zu sein.Exodus der kulturellen ElitenNatürlich hat sich im Februar letzten Jahres alles geändert. Als die Panzer über die ukrainische Grenze rollten, endete die Ära der pragmatischen Toleranz unter Putin. Rospechat wurde 2021 aufgelöst und seine Aufgaben wurden von einer anderen Behörde übernommen: dem Föderalen Dienst für die Überwachung von Kommunikation, Informationstechnologie und Massenmedien (Roskomnadsor). Dabei handelt es sich um eine wahrhaft unheimliche Organisation, die für die Überwachung und Kontrolle des Internetverkehrs in Russland zuständig ist. Ein Datenleak von Roskomnadzor, das die belarussische Hackergruppe Cyber Partisans aufgedeckt hat, zeigt, dass Roskomnadzor daran arbeitet, unerwünschte Online-Inhalte sowohl in Russland als auch in Belarus zu zensieren und eine Liste von Personen zu erstellen, die als „ausländische Agenten“ bezeichnet werden können.Die Gefahr, sich gegen Putin auszusprechen, ist heute wohl größer als in der jüngsten Vergangenheit. Gleiches gilt für die Notwendigkeit, es zu tun. Gerade Schriftsteller haben die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, und zu schweigen ist kreativer Selbstmord. Aus diesem Grund leben so viele der größten russischen Kulturschaffenden in Europa und den Vereinigten Staaten: Das Exil bietet ein Maß an Sicherheit und Freiheit, das in Russland nicht möglich ist.Diese Situation ist zutiefst paradox. Putin rechtfertigte den Einmarsch in die Ukraine unter anderem damit, die russische Kultur und Sprache vor einer angeblichen neonazistischen Verfolgung in der Ukraine zu retten, aber der Krieg hat lediglich die Flucht der Besten und Klügsten aus Russland beschleunigt. Evgeny Kissin spielt Klavier in Prag, Vladimir Ashkenazy in der Schweiz. Boris Akunin schreibt jetzt von London, Ljudmila Ulitzkaja von Berlin aus. Je mehr Künstler das Land verlassen, desto homogener wird Russland in kultureller Hinsicht, und es bleiben nur noch die Pro-Putin-Typen zurück. Ein paar namhafte Künstler und Schriftsteller arbeiten noch unter Putin im Präsidialrat für Kultur und Kunst. Durch ihre Mitgliedschaft in diesem Rat bringen alle diese Persönlichkeiten offen ihre Unterstützung für das Putin-Regime und damit auch für den Krieg in der Ukraine zum Ausdruck. Auf die Spitze getrieben, droht Russland zu einem kulturellen Potemkin zu werden: außen makelloser Putz, innen bröckelndes Mauerwerk.Viele im Westen haben als Reaktion auf den Krieg einen Boykott der russischen Kultur vorgeschlagen. Aber diese Taktik spielt genau in Putins Rhetorik hinein: Dass der Westen Russland hasst und schon immer gehasst hat. Im Gegenteil, es ist von entscheidender Bedeutung, dass kritisch denkende Menschen überall russische Dissidenten unterstützen, indem sie ihre Bücher kaufen, ihre Konzerte besuchen und in ihre Ausstellungen gehen. Allerdings müssen die Menschen auch daran denken, zwischen russischen Dissidenten und Kreml-Treuen zu unterscheiden. In gewissem Sinne hat der Krieg Russland klar in zwei Hälften geteilt: in solche mit und solche ohne moralische Überzeugung. Der Krieg findet nicht nur in den Steppen der Ukraine statt, sondern auch in der Psyche einer der größten Kulturen der Welt.