Zu extrem für al-Qaida

Dschihad Die Kämpfer der Organisation „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ (ISIL) sind noch gnadenloser als andere Gotteskrieger
Ausgabe 25/2014
Wie sich die ISIL gern selbst inszeniert: Foto von einer islamistischen Webseite
Wie sich die ISIL gern selbst inszeniert: Foto von einer islamistischen Webseite

Foto: Welayat Salahuddin/AFP/Getty Images

Die von dem irakischen Sunniten Abu Bakr al-Baghdadi geführte ISIL war ursprünglich ein Al-Qaida-Ableger, hatte seine Zellen nördlich sowie westlich von Bagdad und nannte sich „Islamischer Staat im Irak (ISI)". Als der syrische Bürgerkrieg immer unbarmherziger geführt wurde, beteiligte sich die Gruppe dort zunächst nur indirekt, indem das ISI-Mitglied Abu Mohammed al-Jawlani im August 2011 die Jabhat al-Nusra gründete. Bald jedoch avancierte diese Al-Nusra-Front zur wichtigsten fundamentalistischen Gruppe auf dem syrischen Schlachtfeld, und Jawlani erhielt Geld und Unterstützung von der ISI und Baghdadi. Dadurch bestärkt, versuchte er intensiv, Einfluss auf die immer mächtiger werdende Jabhat al-Nusra zu gewinnen, indem er nun auch die Operationen der ISI direkt auf Syrien ausweitete und im April 2013 schließlich die Organisation ISIL gründete.

Dann allerdings führten Streitigkeiten über ideologische, personelle und strategische Fragen schnell zu erbitterten Kämpfen. Es stellte sich heraus, dass ISIL nicht nur für Jabhat al-Nusra, sondern selbst für al-Qaida zu extrem und brutal war, so dass sich Al-Qaida-Führer Ayman al-Zawahiri von der Gruppe distanzierte und ISIL im vergangenen Monat energisch aufforderte, Syrien zu verlassen und in den Irak zurückzukehren.

Wer jedoch glaubte, der Stern von ISIL sei durch diese Reibungen im Sinken begriffen, weil deren Protagonisten Boden an Jabhat al-Nusra und deren Verbündete verloren haben, der sieht sich durch die Eroberung großer irakischer Städte während der zurückliegenden Wochen eines Besseren belehrt. Die Kombattanten von ISIL kontrollieren nun ein Gebiet, das sich vom östlichen Stadtrand Aleppos in Syrien über Falludscha im Westen des Irak bis zu der mehr im Norden gelegenen Stadt Mosul erstreckt.

Öffentlich gekreuzigt

Ihre Rücksichtslosigkeit und exemplarische Grausamkeit hat die Gruppe in den syrischen Gebieten, die unter ihre Kontrolle fielen – im Osten der Metropole Aleppo und die Stadt Raqqa –, bereits hinlänglich unter Beweis gestellt. Man wirft ISIL-Kommandos unter anderem vor, das Gründungsmitglied der Salafisten, Ahrar al-Sham; deren aktuellen Führer in Aleppo, Muhammad Bahaiah, der enge Beziehungen zu führenden Al-Qaida-Mitgliedern unterhielt; dazu den Jabhat al-Nusra-Führer im Gouvernement Idlib, Abu Muhammad al-Ansari, sowie dessen Frau und Kinder umgebracht zu haben. Ein Zivilist, der unter Mordverdacht stand, wurde in Raqqa öffentlich gekreuzigt. Andere Bestrafungsformen eines vergleichbaren Kalibers sind Enthauptungen und die Amputation von Händen und Armen.

Trotz ihres Rufs als Henker ohne Gnade haben ISIL-Kommandeure im Irak immerhin eine gewisse Flexibilität offenbart, wenn es darum ging, in allen Landesteilen sunnitische Clans für sich zu gewinnen, die von der schiitisch geführten Regierung des Premiers Nuri al-Maliki enttäuscht sind. Mushreq Abbas, der in Bagdad das Online-Portal al-Monitor betreibt, beschreibt, wie sich Baghdadi gegenüber der politischen Klasse sunnitischer Stammesführer und moderater Geistlicher verhalten hat. „Bislang haben seine Kämpfer religiöse Würdenträger weitgehend verschont. Als sich einige Clans in Falludscha weigerten, die ISIL-Fahne zu hissen, wies er seine Kämpfer an, auf diesen Akt zu verzichten. Stattdessen sollten sie versuchen, Kämpfer anderer bewaffneter oder religiöser Gruppen für sich zu gewinnen“, vermerkt Abbas

Im Gegensatz zu den Soldaten der irakischen Armee, die ihnen gegenüberstehen, sind die ISIL-Kämpfer mehrheitlich hochmotiviert, kampferprobt und bestens ausgerüstet. „Die Organisation hat inzwischen wirklich einen nahezu staatlichen Charakter. Sie trägt alle diesbezüglichen Insignien. Ihr fehlt allein die internationale Anerkennung“, meinte Douglas Ollivant von der New America Foundation in der Washington Post.

Große Schutzgeldringe

ISIL unterhält Gerichte, Schulen, Hospitäler und Behörden. Auf jeder Einrichtung, die von ihr kontrolliert wird, weht garantiert die eigene schwarz-weiße Fahne. In Raqqa eröffnete die dortige ISIL-Filiale sogar eine Verbraucherschutzbehörde zur Kontrolle der Lebensmittelqualität.

Bereits vorhandener Einfluss von ISIL wurde dadurch gestärkt, dass die Organisation in Syrien Tausende von Freiwilligen rekrutierte. Mittlerweile stehen schätzungsweise 10.000 bis 15.000 Mann unter ihrem Kommando. Um sich zu finanzieren, unterhalten ISIL-Gruppen in Mosul große Schutzgeldringe. Im Februar 2014 erlangte ISIL zudem die Kontrolle über das im syrischen Deir Ez-Zor gelegene, finanziell lukrative Conoco-Gasfeld, dessen Ausbeutung pro Woche mehrere tausend Dollar einbringen soll und zuvor von der Al-Nusra-Front kontrolliert wurde.

Jetzt, da Mosul eingenommen ist, befindet sich ISIL logischerweise in einer noch stärkeren Position und kann mit noch mehr Recht von sich behaupten, die führende dschihadistische Gruppe im Irak zu sein. „Ihre Führer präsentieren sich innerhalb der dschihadistischen Community derzeit als ideologisch überlegene Alternative zu al-Qaida. Sie sprechen Al-Qaida-Führer Zawahiri öffentlich jede Art von Legitimation ab“, heißt es in einer Analyse, verfasst Anfang Mai durch Charles Lister von der Brookings Institution in Doha, der Hauptstadt Katars. In seinem Dossier heißt es weiter: „Damit wird ISIL zunehmend zu einer transnationalen Bewegung mit Zielen weit über den Irak, Syrien und den Libanon hinaus. Denn diese gelten für den gesamten arabischen Raum.“

Mark Tran ist Redakteur des Guardian und war lange Zeit Korrespondent in Washington und New York

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Mark Tran | The Guardian

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