„Zuckerberg ist Teil des Problems“

Facebook Frances Haugen hat sich mit dem Unternehmen angelegt. Ihre Enthüllungen zeigen, wie die Plattform von Hass und Hetze profitiert. Doch wer ist die Frau hinter den Leaks?
Im Mai dieses Jahres kündigte Frances Haugen ihren Job bei Facebook und nahm zehntausende interner Dokumente mit
Im Mai dieses Jahres kündigte Frances Haugen ihren Job bei Facebook und nahm zehntausende interner Dokumente mit

Foto: Drew Angerer/Getty Images

Es war nicht Frances Haugens bevorzugter Plan, Whistleblowerin zu werden. Sie stehe nicht gern im Zentrum der Aufmerksamkeit, erzählt die Datenspezialistin. Aber was sie während ihrer Arbeit bei Facebook beobachtete, zwang sie zum Handeln und machte sie weltweit bekannt.

„Was ich getan habe, war nicht mein Plan A. Auch nicht Plan B oder C. Es war vielleicht Plan J, wenn überhaupt“, lacht sie im Video-Interview. „Und niemand hat sich mit mir zusammengesetzt und gesagt: ,Ich möchte, dass du das alles nach außen trägst.‘“

Aber genau das hat Haugen getan. Im Mai dieses Jahres kündigte sie ihren Job und nahm zehntausende interner Dokumente mit. Deren Inhalt löste einen Strudel von Anschuldigungen aus. So soll Facebook gewusst haben, dass seine Produkte die psychische Gesundheit von Jugendlichen schädigen und ethnische Gewalt in Ländern wie Äthiopien schüren. Auch habe die Firma es versäumt, Fehlinformationen vor dem Sturm aufs Kapitol in Washington zu unterbinden. Das alles hatte Haugen schon vor dem US-Senat ausgeführt. Nun wiederholte sie Ihre Kritik vor dem britischen Parlament. Facebook schlittert unterdessen immer tiefer in die Krise, daran ändert auch die Umbenennung in Meta nichts.

Für die 37jährige Haugen kam der entscheidende Wendepunkt, als sie zu ihrer Mutter zog. Diese hatte ihre akademische Karriere aufgegeben, um Priesterin zu werden. „Ich habe wirklich Glück, dass meine Mutter Priesterin der Episkopalen Kirche ist“, sagte Haugen. „Im vergangenen Jahr lebte ich sechs Monate bei ihr. Damals war ich in einer schweren Krise wegen der Dinge, die ich bei Facebook sah. Ich war mir sicher, dass die Probleme nicht innerhalb von Facebook gelöst werden würden.“

„Ich tat, was ich für notwendig hielt, um das Leben von Menschen zu retten“

Besondere Sorge bereitete ihr das Fehlen von Sicherheitskontrollen in Märkten wie Afrika und dem Nahen Osten. In Äthopien wurde Facebook vermehrt von Menschenhändlern und bewaffneten Gruppen genutzt, so Frances Haugen. Das habe den Ausschlag für ihre Entscheidung gegeben. „Ich tat, was ich für notwendig hielt, um das Leben von Menschen zu retten. Insbesondere im globalen Süden. Facebook gefährdet Menschen, weil sie den Profit über alles stellen. Wenn ich diese Dokumente nicht öffentlich gemacht hätte, wäre es nie ans Licht gekommen“

Während des Video-Gesprächs war nichts von dem Stress zu beobachten, den man erwarten könnte, wenn sich jemand mit einem Unternehmen wie Facebook und seinen zahlreichen Rechtsanwälten anlegt. Es ist die Art von Gespräch, die man von einer erfolgreichen Silicon Valley-Mitarbeiterin erwarten würde. „Wir haben bewusst nicht zu viele Interviews zugelassen, weil es nicht um mich geht, sondern um die Dokumente“, erklärt sie. „Ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt.“

Aber seit Anfang des Monats musste sie öfters auftreten - als Zeugin für Enthüllungen des Wall Street Journal. Ihre Freunde und Familie seien dabei eine große Stütze. „Jemand aus meinem Freundeskreis hat mir mit einem Spruch Mut gemacht“, erzählt sie. „Den sage ich mir vor, wenn die Angst hochkommt: Es geht hier nicht um dich, du bist überreichst nur die Dokumente.“

Auch ihr neues Zuhause direkt am Atlantischen Ozean in Puerto Rico hilft. Mit dem Observer sprach sie von der karibischen Insel aus, die zu den USA gehört. „Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich in Puerto Rico lebe, weil mich hier niemand erkennt.“ Diese Anonymität wäre ihr in ihrem früheren Wohnort in Nordkalifornien vermutlich nicht vergönnt. „In San Francisco wäre es stressig.“ In San Juan sei es viel einfacher, nicht durchzudrehen. „Hier kann ich einfach mal Schwimmen gehen oder auf dem Markt einkaufen und mich wie ein ganz normaler Mensch fühlen. Ich empfinde es daher nicht als große Veränderung.“

Mitarbeiter äußerten Bedenken, sie wurden ignoriert

Ihr Umzug nach Puerto Rico hatte auch gesundheitliche Gründe. Seit Jahren leidet Haugen an einer Gluten-Unverträglichkeit. 2014 kam sie mit einem Blutgerinnsel auf die Intensivstation. Sie erholte sich, leidet aber weiter an Schmerzen wegen Nervenschäden in den Beinen. Bei dem warmen Wetter auf den Karibik-Inseln geht es besser.

Auf das kältere Wetter in Europa freute sie sich daher nicht vor ihrer Europareise, die sie auch zur jährlichen größten europäischen Tech-Konferenz „Web Summit“ in Lissabon führt. Aber Haugen ist gefragt und die von ihr geleakten Dokumente schlagen weiter hohe Wellen. Erst kürzlich veröffentlichte eine Gruppe von Medien, darunter die New York Times, neue Berichte über die Memos. So wurde berichtet, dass Facebook es nicht in den Griff bekam, Hassreden vor dem Sturm aufs Kapitol in Washington einzudämmen. Zudem sollen vor und nach den US-Präsidentschaftswahlen wiederholt Facebook-Mitarbeiter:innen Bedenken angemeldet haben, als Donald Trump versuchte, den Sieg von Joe Biden zu kippen.

Seit das Wall Street Journal als erstes über die Dokumente berichtete, werden täglich neue Enthüllungen veröffentlicht. Diese erwecken den Eindruck eines Unternehmens, das nicht in der Lage oder nicht willens ist, etwas gegen die negativen Konsequenzen seiner Reichweite zu tun. Facebooks Apps – inklusive der Hauptplattform, Facebook- Messenger, Instagram und WhatsApp – werden täglich von 2,8 Milliarden Menschen genutzt. Während Politiker und Aufsichtsbehörden auf beiden Seiten des Atlantiks näher rücken, kündigte Zuckerberg diese Woche an, dass der Mutterkonzern nun „Meta“ heiße.

Für Haugen ist Zuckerberg ein großer Teil des Problems. Der Facebook-Gründer besitzt eine Mehrheit der Stimmrechtsaktien des Unternehmens, was seine Position unangreifbar mache. Das muss sich ändern, fordert Haugen. Sie ist überzeugt, das unabhängige Investoren bei Facebook einen Wandel an der Unternehmensspitze durchsetzen würden, wenn sie könnten. „Ich glaube an die Rechte der Aktionäre und diese fordern schon seit Jahren ihr Recht – eine Stimme pro Aktie. Der Grund dafür? Die würden eine andere Führung wählen.“

„Zuckerberg hat die gesamte Kontrolle“

Vor dem Hintergrund der schädlichen Auswirkung von Instagram auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen und Facebooks Unvermögen, rechte Hassreden und Fehlinformationen in den USA zu verfolgen, wirft Haugen Zuckerberg Versagen vor. Er habe nicht zeigen können, dass er die Öffentlichkeit vor den negativen Folgen seiner Netzwerke schützen kann. „Er hat die gesamte Kontrolle. Aber er hat keinen Überblick und er hat nicht gezeigt, dass er bereit ist, das Unternehmen so zu führen, wie es für die öffentliche Sicherheit notwendig ist.“

In einer Erklärung entgegnete Facebook: Im Mittelpunkt dieser Geschichten steht eine falsche Grundannahme. Ja, wir sind ein Unternehmen und wir wollen Profit machen. Aber die Vorstellung, dass wir das auf Kosten der Sicherheit oder des Wohls der Leute Profit machen, missversteht unsere kommerziellen Interessen. In Wahrheit haben wir 13 Milliarden US-Dollar (11,2 Milliarden Euro) und über 40.000 Mitarbeiter investiert, um eins zu erreichen: die Sicherheit der User von Facebook.“

Facebook meldete im vergangenen Jahr ein Nettoeinkommen von 29 Milliarden US-Dollar (25 Milliarden Euro). Der Unternehmenssprecher fügte hinzu: „Es gibt für uns keinen kommerziellen oder moralischen Anreiz, irgendetwas Anderes zu tun, als einer maximalen Anzahl von Menschen eine so positive Erfahrung wie möglich zu bieten. Wie jede andere Plattform treffen wir ständig schwierige Entscheidungen zwischen Meinungsfreiheit und schädlichen Äußerungen, zu Sicherheit und anderen Fragen. Diese Entscheidungen treffen wir nicht in einem Vakuum – wir greifen dafür auf das Input unserer Teams ebenso wie auf externe Experten zurück. Die Festlegung dieser gesellschaftlichen Grenzen sollte jedoch besser den gewählten Entscheidungsträgern überlassen werden. Deshalb setzen wir uns seit vielen Jahren für eine bessere Internetregulierung ein.“

Haugen trat in London am Montag vor dem gemeinsamen Ausschuss zum Entwurf eines Online-Sicherheits-Gesetzes auf. Das geplante Gesetz verpflichtet Social-Media-Unternehmen, ihre Nutzer:innen vor schädlichen Inhalten zu schützen. Andernfalls soll die britische Medienaufsichtsbehörde Ofcom Strafen in Höhe von mehreren Milliarden Euro verhängen können.

Facebooks Verhalten muss vom Staat überprüft werden können

Haugen unterstützt (zumindest) eine der im Gesetz geplanten Maßnahmen. Demnach müssen Unternehmen wie Facebook eine Risikobewertung für Inhalte machen, welche Nutzer:innen gefährden könnten „Ich glaube an Dinge wie Risikoassessments. Facebook sollte formulieren müssen, was es als Risiko einschätzt. Bisher erhalten wir nie Einzelheiten dazu, wie das Unternehmen die Probleme lösen will.“ Bevor Haugen Facebook verließ, arbeitete sie dort im „Civic Integrity“-Team, das die Aufgabe hatte, die US-Bürger:innen vor Wahl-Einmischung zu schützen.

Haugen möchte, dass mehr „Reibung“ in die Systeme von Facebook eingebaut wird. Twitter beispielweise fordert Nutzer:innen auf, einen Link zu lesen, bevor sie ihn posten. Facebook sollte einen chronologischen und damit weniger provokativen News-Feed einführen, so Haugen. Zudem brauche es mehr aufgezwungene Transparenz. Dazu sagt Facebook, man arbeite an einem „Lesen-Bevor-Sie-Teilen“-Tool ähnlich wie dem von Twitter. Und die User:innen könnten bereits jetzt einen chronologischen News-Feed einstellen. Das Auffinden dieser Option wolle man verbessern.

Unterdessen fordert Haugen, dass Facebook und seine riesigen, intern angehäuften Datenmengen regelmäßig und spontan von den Aufsichtsbehörden überprüft werden. „Wir brauchen einen Weg, auf dem wir unsere Bedenken äußern können und das Unternehmen eine Antwort liefern muss.“ Für die Zukunft plant die Whistleblowerin eine Non-Profit-Organisation, die eine solche Reform der Sozialen Medien vorantreibt: „Mit diesen Lösungen könnten Menschen geschützt werden.“

In der Zwischenzeit setzt sie auf ein Einlenken Zuckerbergs und seiner Führungsriege. „Ich hoffe, dass meine Enthüllungen dazu führen, dass er sagt: ,Ich habe einige Fehler gemacht, ich will nochmal von vorne anfangen’“, erklärt sie. „Der Punkt eines solchen Eingeständnisses ist doch, dass man die Chance bekommt, neu anzufangen. Wir als Gesellschaft sollten jedem diese Möglichkeit geben. Wir würden davon profitieren.”

Die besten Blätter für den Herbst

Lesen Sie den Freitag und den neuen Roman "Eigentum" von Wolf Haas

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Dan Milmo | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden