Zukunft gesucht

Report In vielen Ländern der Welt kommt es zu Unruhen, weil es dort mehr junge als alte Menschen gibt
Ausgabe 17/2014
Zukunft gesucht

Foto: Yasuyoshi Chiba / AFP

Im Januar haben ägyptische Aktivisten auf Facebook ein Bild verschickt, auf dem eine Gruppe von Männern zu sehen war, die während des Verfassungsreferendums vor einem Wahllokal stand, um ihre Stimme abzugeben. Fast alle waren 50 oder älter. Über dem Foto stand: Generation der Schande. Viele Ägypter denken inzwischen so, sie glauben, dass die Revolution im Jahr 2011 vor allem eine Auseinandersetzung zwischen der immer größer werdenden Jugend und ihren konservativen Eltern war. 60 Prozent hier sind unter 30, das Durchschnittsalter liegt bei 24,8 Jahren

Natürlich haben auch viele ältere Ägypter gegen das Regime von Husni Mubarak gekämpft; der 71-jährige Nobelpreisträger Mohammed el-Baradei zählte zu den Protagonisten. Aber noch immer haben die Alten das Sagen: Die meisten Minister sind zwischen 70 und 80 Jahre alt, die Führer politischer Gruppierungen auch. Und es waren die Älteren, die dem Referendum im Januar zustimmten. Es gilt als eine Art Mandat für die Restauration der autoritären Regierung.

„Jene Generation, die Husni Mubarak 30 Jahre lang durch ihr Schweigen unterstützt hat, ruiniert nun unsere Zukunft“, sagt der prominente Aktivist Ahmad Abd Allah von der Jugendbewegung des 6. April, die an der Spitze der Proteste stand und nun von der neuen Regierung unterdrückt wird. „Wir haben uns gegen das Schweigen unserer Eltern aufgelehnt“, sagt Abd Allah. „Doch diese Generation herrscht weiter und wir zahlen den Preis dafür!“

Es ist kein Zufall, dass Spannungen vor allem in Ländern mit einer überproportional jungen Bevölkerung auftreten. Laut einem Bericht des Thinktanks „Population Action“ haben sich 80 Prozent aller zivilen Konflikte, die zwischen 1970 und 2000 stattfanden, in Ländern zugetragen, in denen mindestens 60 Prozent der Bevölkerung unter 30 waren. In solchen Gesellschaften, so das Argument, gebe es weniger Aussichten auf gute Jobs und eine geringere soziale Mobilität. Das führe zu gesellschaftlicher Unzufriedenheit und schließlich zu Unruhen, die den Machthabern wiederum einen Vorwand für repressive Maßnahmen lieferten. Ein Teufelskreis.

Gegen die alten Eliten

Im Jemen, auf der anderen Seite des Roten Meeres, machen die unter 30-Jährigen sogar 74 Prozent der Bevölkerung aus. Auch hier spielte die Jugend eine entscheidende Rolle beim Sturz des Präsidenten Ali Abdullah Salih im Jahr 2011. Die Spannungen sind seither nicht weniger geworden, haben religiöse und regionale Wurzeln und lassen sich auf die dortige Stammesstrukur zurückführen. Aber eben auch auf eine ungesunde Dynamik zwischen den Generationen: Der neue Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi ist 68 und damit viermal so alt wie das jemenitische Durchschnittsalter, das bei 18,5 Jahren liegt. „Die meisten Jemeniten haben nicht den Eindruck, dass die älteren Politiker ihre Probleme kennen würden“, sagt der 24-jährige Autor und Aktivist Farea al-Muslimi, der bekannt wurde, als er bei einer Anhörung im US-Senat die amerikanischen Drohnenangriffe anprangerte. „Die meisten ausländischen Beobachter verstehen meine Probleme besser als die Politiker hier.“

„Ein rapides Wachstum der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter führt dazu, die Arbeitslosigkeit zu vergrößern, die Abhängigkeit von den Eltern zu verlängern, das Selbstwertgefühl zu schmälern und Frustrationen zu schüren“, erläutert Richard Cincotta, ein ehemaliger Berater des US-amerikanischen National Intelligence Council.

Der deutsche Demograf Gunnar Heinsohn führt die sogenannte „Youth Bulge“-Theorie im Extrem aus. Seiner Meinung nach bestehen kausale Zusammenhänge zwischen einer im metaphorischen und einer im wortwörtlichen Sinne explodierenden jugendlichen Bevölkerung. „In Ländern mit einem ‚Youth Bulge‘ neigen die jungen Männer dazu, sich gegenseitig zu eliminieren oder in brutalen Kriegen getötet zu werden, bis eine Balance zwischen ihren Ambitionen und der Zahl der in ihrer Gesellschaft vorhandenen akzeptablen Positionen erreicht ist“, schreibt Heinsohn. Er ist Vorsitzender des Raphael-Lemkin-Instituts für Genozidforschung in Auschwitz.

Als Beispiele nennt er Algerien und den Libanon. In beiden Ländern kamen während der 1980er- und 90er Jahre hunderttausende Menschen in Bürgerkriegen ums Leben, bis in beiden Ländern die Geburtenraten sanken: „Das Kämpfen nahm ein Ende, weil keine Kämpfer mehr geboren wurden.“

Andere seiner Kollegen lehnen es ab, von einer derart ausgeprägten Verbindung zu sprechen, zumal wenn es um sehr gewalttätige Konflikte geht. „Heinsohn vertritt sehr starke Thesen bezüglich einer mehr oder weniger mechanischen Beziehung zwischen großen jugendlichen Bevölkerungen und Gewalt“, sagt etwa Henrik Urdal. Er ist Redakteur des Journal of Peace Research und Autor von entsprechenden Berichten für die UNO. „Tatsächlich weisen die meisten südlich der Sahara gelegenen Länder Afrikas ebenfalls sehr große jugendliche Bevölkerungen auf. Dennoch ist Gewalt dieses Ausmaßes dort sehr selten.“

Urdal sagt, die Wahrscheinlichkeit von Konflikten könne beispielsweise durch ein gutes Bildungssystem gesenkt werden. Vieles hänge davon ab, wie sich Jugendliche einem autoritären Regime gegenüber sähen; Spannungen führten nicht immer zu einer Gegnerschaft von Alt und Jung. Es müsse „nicht unbedingt ein generationelles Bewusstsein vorhanden sein, damit kollektives Handeln begünstigt wird“, sagt er.

In Nigeria sind mehr als 70 Prozent der Bevölkerung unter 30. Dennoch hat diese demografische Situation nicht zu einem breitem Unmut über mangelnde Beteiligung an der Politik geführt, sagt der Nigerianer Dabesaki Mac-Ikemenjima, der die Erwartungen afrikanischer Jugendlicher erforscht. Religion und ethnische Zugehörigkeit böten eine weitaus höheres Konfliktpotenzial. Junge Menschen würden oft aus persönlichen Gründen in die Politik gehen, um die Sache ihrer Generation ginge es ihnen weniger.

Demokratie gestalten

Die jüngsten Proteste in Südamerika, auch hier stellen unter 30-Jährige in vielen Ländern knapp die Bevölkerungsmehrheit, haben das ebenfalls gezeigt. „Bei den eineinhalb Millionen Menschen, die im Juni 2012 in Brasilien auf die Straße gingen, handelte es sich um Angehörige der Mittelschicht“, sagt Chris Garman, der die Region für die Denkfabrik Eurasia Group beobachtet. „Auch die, die vor zwei Jahren in Argentinien demonstrierten, gehörten der Mittelschicht an. Für Kolumbien gilt das Gleiche: Es waren demonstrierende Mittelschichtler, die Bogotá lahmlegten. Bildung, Verkehr, das sind dort die Themen.“ Garman betrachtet die Proteste in Südamerika als „Symptom des Erfolgs“. Hier habe man es mit gut ausgebildeten Bürgern zu tun, die sich mehr von einem bereits demokratischen System wünschten, statt mit entfremdeten Jugendlichen, die für das Ende einer Autokratie kämpfen.

Allerdings waren es mit Camila Vallejo und Giorgio Jackson Studentenführer um die 20, die die Demonstrationen in Chile angeführt haben. Sie beschreiben ihren Kampf durchaus auch als einen der Generationen: „Für Leute, die jetzt um die 70 oder 80 sind, war der Übergang von der Diktatur zur Demokratie an sich eine gewaltige Errungenschaft“, sagte der 27-Jährige Jackson jüngst. „Sie sind glücklich, aber unsere Generation will mehr Fortschritt.“ Nun sind er und Vallejo Mitglieder im chilenischen Kongress, auch das stützt die These, dass sie ihre Demokratie von innen heraus weiterentwickeln wollen. „Wir wurden in den letzten Jahren der Pinochet-Diktatur geboren“, sagte Jackson noch. „Wir wuchsen in einer Demokratie auf. Das ändert unsere Erwartungen an sie.“

In Ostasien hat sich das Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1965 und 1990 verdreifacht, weil es immer mehr junge Menschen gibt. Wissenschaftler bezeichnen das als „demografische Dividende“. In Korea oder Japan übersteigt die Zahl junger Fachkräfte die ihrer Eltern. So müssen sie weniger für ihre Familien aufbringen, können sparen und gleichzeitig Geld für sich selbst ausgeben. Der Erfolg war kein Zufall: Das ging einher mit der Verbesserung des Bildungssystem und der Arbeitsmarkt wurde durch eine kluge Wirtschaftspolitik vergrößert.

Regierungen müssten investieren, schrieb der Arbeitsmarktexperte Bhanu Baweja in der Financial Times: „In die Gesundheitsversorgung, in die Schul- und Berufsausbildung. Vor allem aber muss eine Politik betrieben werden, die wiederum Anreize für höhere Privatinvestitionen schafft, damit die große Zahl der Arbeitskräfte integriert werden kann.“ In Ägypten oder dem Jemen führt wahrscheinlich niemand eine solche Diskussion.

Der ägyptische Aktivist Ahmad Abd Allah will das Träumen trotzdem nicht aufgeben: „Eines Tages werden wir die Gewinner sein“, sagt er und weiß da noch nicht, dass am Abend danach Mitaktivisten seiner Bewegung 6. April gefoltert werden. „Wir sind eine junge Nation. Und wir sind die Zukunft“, sagt er voller Vertrauen, obwohl seine Generation im Moment allenfalls symbolisch am politischen Prozess beteiligt ist: mal ein runder Tisch mit dem Präsidenten, mal ein Termin vor Journalisten. Stattdessen aber sollte die Teilhabe der Jugend ein integraler Bestandteil nationaler Reformen sein, statt bloße Pflichtübung.

„Die Jugend ist Teil eines Prozesses, Teil einer sehr viel weiter reichenden Transformation. Sie umfasst die ganze Gesellschaft“, sagt Camilla Vallejo. Die junge Chilenin spricht von ihrem Land. Und beschreibt doch die Situation von Jugendlichen in vielen anderen Teilen der Welt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Patrick Kingsley | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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