Als Raúl Castro den VI. Kongress der Kommunistischen Partei eröffnete, erwartete niemand, dass er eine maximale Amtszeit von zehn Jahren für Kubas künftigen Präsidenten verkünden würde. Während seine Alliierten Venezuela und Bolivien anders verfahren, stellt Kuba sicher, dass der kommende Staatsführer das Amt nicht so lange innehaben kann wie Fidel Castro dies tat.
Raúls Rede enthielt aber noch eine ganze Reihe weiterer Aspekte. Es lohnt, darauf näher einzugehen. Mit zweieinhalb Stunden war es mit Abstand die längste, die er jemals gehalten hat – ein Triumph für einen Mann, der sonst nicht viele Worte macht. Die Abwesenheit seines wortgewaltigeren Bruders verlieh Raúls Rede mehr Gewicht und gab ihm freie Hand, viel
and, viel sagende Argumente vorzubringen.Herausragendes Thema war zweifellos die Erneuerung und Kursänderung. Das Land müsse sich alle paar Jahre neu ausrichten, so Raul Castro, der die Bürokraten ausdrücklich ermahnte, die Dinge künftig nicht mehr auf Eis zu legen. In der Vergangenheit wurden Veränderungen oft durch die Schwerfälligkeit des Apparates blockiert. „Diesem Kongress darf nicht das Schicksal seiner Vorgänger zuteil werden, deren Beschlüsse in Vergessenheit gerieten und nicht umgesetzt wurden“, so Castro.Den Staat entlastenVon den wirtschaftlichen Einschnitten, die Castro erwähnte, stechen zwei heraus: Neue Gesetze werden entworfen, um den Verkauf von Häusern und Autos und den Transfer von mehr staatlichem Land an erfolgreiche Landwirte zu ermöglichen. Letzteres wird die Bedingungen dafür schaffen, dass es erstmals seit 1959 wieder so etwas wie Grundbesitzer geben könnte. Wenn man dies mit neuen Plänen in Verbindung bringt, wonach auch die Anstellung von Arbeitern erlaubt werden soll, braucht man nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie grundlegend die wirtschaftliche Transformation ausfallen könnte. In Kuba sind derzeit noch 90 Prozent aller Arbeitskräfte im Staatsdienst angestellt. Das Ziel besteht darin, diese Zahl in fünf Jahren auf 65 Prozent zu reduzieren.Raúl gab sich große Mühe zu betonen, dass es sich hier nicht um „Privatisierung“ handele, sondern eher darum, das Institut des Staates von der Notwendigkeit zu entlasten, „nicht-strategische“ Aktivitäten zu verwalten. Der Staat solle künftig, die Souveränität der Nation verteidigen, Drogenmissbrauch und Kriminalität bekämpfen, die Armut vermindern und Gewalt vermeiden. Davon abgesehen müsse er regulieren, aber nicht verwalten. Man habe insofern eine politische und ökonomische Dezentralisierung auf den Weg gebracht, die sowohl den Lokalverwaltungen als auch staatlichen Betrieben mehr Freiheiten erlaube.Überdies kritisierte Raúl die Partei dafür, dass sie von ihrem Weg abgekommen sei, der Gesellschaft moralische Führung zu geben, und stattdessen die Rolle des Staates beeinträchtigt habe. Er rief dazu auf, die Propaganda in den Medien zu beenden. Es müsse Schluss sein mit der „Angewohnheit, die nationale Realität in einer prätentiösen und hochtrabenden Sprache“ zu beschreiben. Er wolle mehr Frauen und Schwarze in Machtpositionen sehen, und ein Ende der Günstlingswirtschaft bei der Auswahl von Führungspersonen. – Es stimmt, dass er einiges hiervon schon einmal gesagt hat, dieses Mal aber sagte er es bei einem Kongress, der einen gewaltigen Prozess der Beratung abschloss. Egal, was die Zyniker sagen – die Zahlen sind ausgezeichnet: 166.000 Treffen, an denen 8,9 Millionen Kubaner teilnahmen, bei denen drei Millionen zu Wort kamen und bewirkten, dass 65 Prozent der Anträge verändert wurden. Eine neue Generation Was wir hier erleben, ist möglicherweise etwas in der Geschichte Einzigartiges: Ein Land in einem gewaltigen Prozess des Wandels und der Anpassung. Raul ist kein messianischer Führer, sondern eher ein moderner Manager, der ein System der delegierten Befugnisse in Kraft setzt, das eine neue Form der Gefolgschaft verlangt. Die Tage sind vorbei, in denen die Bevölkerung Fidel Castro blind vertraute und ihm folgte, egal wohin er ging. Raúl führt eher von der Seite und erwartet von den Menschen, dass sie selbst mehr Verantwortung für ihr Leben übernehmen und sich aktiver am gesellschaftlichen Leben beteiligen. Er will eine neue Generation von Führungskräften finden, die innerhalb der kommenden fünf Jahre den Platz der „alten Garde“ einnehmen, einschließlich seiner selbst. Da sie alle auf die 80 zugehen, ist dieser Wechsel unvermeidlich und muss bald erfolgen. In der Frage, was und wer nach ihnen kommt, steckt die Herausforderung, der sich das Land gegenübersieht.