Heute wird Schottland eine Entscheidung treffen, die für die 307-jährige britische Einheit von seismischer Bedeutung sein wird. Abgehärtet und erprobt durch die Industrielle Revolution, das Empire, durch Kriegsgräuel und die Geburt des Wohlfahrtsstaats wurde die Einheit gestärkt durch die beiderseitige Schaffenskraft und die Talente komplementärer Identitäten. Diese Einheit war pluralistisch, demokratisch, multikulturell, tolerant (weitgehend), aufgeklärt (meistens), liberal. Und im Vergleich bemerkenswert erfolgreich.
Wie auch immer das Referendum am Donnerstag ausgehen wird: Das Ergebnis sollte Katalysator eines Wandels sein, ein Vorbote verfassungsmäßiger Veränderungen, die ganz Großbritannien betreffen. Die Schotten machen sich allein auf diese Reise – aber sie haben unbeabsichtigt Passagiere aus den übrigen Teilen der Einheit am Bord genommen. Als der ehemalige britische Premier Gordon Brown – unterstützt von den drei Parteiführern in Westminster – den Schotten „nicht weniger“ versprach, als „eine moderne Form der Home Rule“, wenn sie mit einem Nein stimmen sollten, war das ein Signal, dass der grundgesetzlichen Konstruktion auf diesen Inseln unwiderrufliche Veränderungen bevorstehen.
Oppositionsführer Ed Miliband ging sogar noch weiter. Im Guardian erklärte er, die Einheit würde fundamentale Veränderungen erleben, sollte er Premierminister werden: „Das Beispiel Schottlands wird auch richtungsweisend sein für eine Veränderung der Art und Weise, wie wir in England regiert werden. Wir brauchen eine Machtübertragung an Lokalregierungen von Cornwall bis Cumbria.“ Noch zwei Wochen zuvor hat wenn denn überhaupt kaum jemand von der Übertragung von Macht an Cumbria oder Cornwall gesprochen. Es ist ein Zeichen dafür, dass Schottlands Regierungschef Alex Salmond ungeachtet des Ergebnisses am Donnertag bereits einen bedeutenden Sieg errungen hat.
Die Entscheidung der drei – von einer Umfrage, die die „Yes“-Kampagne in der Führung zeigte, aufgescheuchten – Westminster-Parteien, erhebliche Machtübertragungen zu versprechen, offenbarte, wie groß ihre Distanz zur politischen und kulturellen Stimmung in Schottland ist. Cameron, Miliband und Clegg hätten achtzehn Monate lang Zeit gehabt, um zu skizzieren, wie weit eine Dezentralisierung gehen könnte. Sie warteten damit aber bis zehn Tage vor dem Referendum. Werbung für das gute Funktionieren der Einheit war das nicht gerade.
Das Angebot einer Übertragung von Macht ging indes einher mit Warnungen vor den vermeintlich katastrophalen ökonomischen Konsequenzen eines Siegs des „Yes“-Lagers. Auf der ständig länger werdenden Liste der prophezeiten wirtschaftlichen Erschütterungen stehen unter anderem steigende Lebensmittelpreise, Arbeitsplatzverluste, Steuererhöhungen, eine Reduzierung der postalischen Dienstleistungen, unsicherere Renten, eine unbeständige Währung, ein Zusammenbruch des Immobilienmarkts, Bankenflucht, sinkende Öleinnahmen und vieles mehr.
Die große Schwäche der No-Kampagne war, dass die Argumente für eine Union als machtvolle, einende Kraft, die einen poetischen und starken Sinn für gemeinsame Stärken und Werte mobilisiert hat, kaum zur Sprache kamen. Vielmehr bemühten die Abspaltungsgegner fast ausschließlich ökonomische Massenvernichtungswaffen strafenden Charakters.
Gezeigt hat sich dies wieder in der Wucht der Konzern- und Finanzmacht, die in den zurückliegenden zwei Wochen entfesselt wurde. Die angedrohten finanziellen Verluste für die Wähler mögen für noch Unentschiedenen eine ernüchternde Aussicht sein. Doch dass finanzielle Argumente zum Kernstück der Attacke auf die Yes-Kampagne gemacht wurden, hat in den Augen vieler schottischer Wähler bloß bestätigt, dass Finanzwirtschaft und Geld mächtigen Einfluss auf die höheren Ebenen des politischen Körpers und damit eine politischen Elite ausüben, der es in den zurückliegenden zwanzig Jahren nicht gelungen ist, die Lebenschancen einer großen Zahl von Briten zu verbessern. Die Einheit ist mehr als der Wert des Pfund Sterlings. Doch die No-Kampagne hat sich schwer damit getan, diese Geschichte zu erzählen.
Stattdessen haben die Unabhängigkeitsbefürworter – zuweilen schamlos – Romantik und Poesie für sich beschlagnahmt. Resolut optimistisch beharrten sie darauf, dass Themen wie die EU- und Natomitgliedschaft eines unabhängigen Schottlands und sogar Währungsfragen sich schon ganz einfach lösen lassen würden. Dabei traten die Löcher in der Argumentation der SNP mit zunehmender Deutlichkeit zutage.
Die Befürworter der Unabhängigkeit täten nicht schlecht daran, einen Blick über das Meer zu werfen, um sich anzusehen, wie es dem unabhängigen Irland in den zurückliegenden fünf Jahren ergangen ist. Ein Teil dessen, was aus Schottland zu vernehmen ist, ist heftiger Widerstand gegen den Status Quo. Auch andere Teile des Vereinten Königreichs sind vor solchen Gefühlen nicht gefeit. Eine sehr große Anzahl von Menschen ist ebenso verbittert über tief verwurzelte Ungerechtigkeiten und selbstgefällige Institutionen. Sie erkennen eine gemeinsame Sache mit den Schotten. Diese Woge des Frusts stellt die Einheit vor radikale Herausforderungen. Dennoch sollten wir uns zumindest über die intensive Beschäftigung mit einer anderen Politik freuen, die die Kampagne für das Referendum entfacht hat.
Es ist ermutigend zu sehen, wie bei den Menschen zuhause, in Pubs und in Clubs der Glaube an die Ausübung des harterkämpften Wahlrechts wieder aufersteht. Für den Donnerstag wird eine außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung vorausgesagt. Aus dieser demokratischen Renaissance lassen sich wertvolle Lehren ziehen. Die meisten „Yes“-Aktivisten sind keine Blut-und-Boden Nationalisten oder Fans von Alex Salmond. Sie treibt vielmehr die Überzeugung an, das System selbst müsse anders werden. Ungleichheit muss bekämpft, die Umverteilung der Ressourcen gerechter geregelt, das Gemeinwohl neu behauptet werden. Die gleichen Ungleichheiten, der gleiche Unmut, das gleiche Sehnen nach einem New Deal lassen sich auch südlich der Grenze finden.
Der britische Publizist Will Hutton schrieb in der vergangenen Woche darüber, woher ein großer Teil der Begeisterung für die Yes-Kampagne rührt: „Das große Argument lautet, dass Schottland nicht für immer gekoppelt sein muss an die Vernarrtheit des englischen Torytums in einen Libertarismus, der jede Verpflichtung gegenüber Gesellschaft und Mitmenschen leugnet...und Urheber des großen Ausverkaufs der zurückliegenden dreißig Jahre ist. Unsere Versorgungs- und Dienstleistungsstruktur, fünf Millionen Sozialbauten, viele unserer großen Unternehmen und reihenweise Immobilien in unseren Städten sind verkauft worden – im Namen der Marktkräfte, um Geschäfte zu machen und Wohlstand zu generieren. So sind ein Raubtier-Kapitalismus, massive Ungleichheit und eine Gesellschaft geschaffen worden, die darauf ausgerichtet ist, den oberen einen Prozent zu nützen.“
Aber ist eine Transition zu einem anderen Schottland ohne ein Ende der Einheit möglich – oder gar wünschenswert? Gordon Brown, selbst Schotte, wird vom „Better Together“-Lager gerade als Vater eines britischen Föderalismus ins Feld geführt: „Westminsters Anspruch auf die ungeteilte Autorität über das Land? Tot und begraben“, schrieb er jüngst. Sollte die Mehrheit der Schotten gegen die Abspaltung stimmen, sagte Brown, könnte ein Regierungssystem folgen, das „dem Föderalismus so nahe wäre, wie es in einer Nation, in der ein Bestandteil 85 Prozent der Bevölkerung stellt, möglich ist.“
Einfach wäre dieser Wandel nicht. Die Übergabe größerer Macht an Schottland hätte erhebliche Konsequenzen für die anderen Teile der Einheit. Eine neue politischen Regelung, in der ein stabiles Schottland eine entscheidende Rolle spiele, könne, so der Guardian-Kolumnist Will Hutton, die Aussicht auf ein Neuerwachen für das gesamte Vereinigte Königreich bedeuten: "Der britische Staat muss umgestaltet werden, so dass nach Schottland, Wales, Nordirland und alle größeren Städte und Gemeinden die Autonomie besitzen, die sie benötigen, um eine Gesellschaft und Kultur nach ihren Vorstellungen zu schaffen – aber unter dem Schutzschirm Großbritanniens. Damit wäre das Beste beider Welten erreicht, statt bloß das Beste für Schottland.“
Der Versuch, die Schotten davon zu überzeugen, das dies der richtige Weg wäre, führt über die Anerkennung der Gründe dafür, warum so viele von ihnen immer mehr Gefallen an der Idee der Selbstbestimmung finden. Von 1945 bis in die die 1970er Jahre gedieh das Land, die Situation der schottischen Arbeiterklasse besserte sich – Jobs, Eigenheime und Bildung waren das Öl für den Motor der sozialen Mobilität. 1979 wählte einer von drei schottischen Wahlberechtigten die Tories, man schickte 22 Abgeordnete ins Parlament. In einem Referendum zur Dezentralisierung im gleichen Jahr sprach ein Drittel der Wähler sich für ein eigenes schottisches Regionalparlament aus, während ein weiteres Drittel zu Hause blieb und der Rest dagegen votierte. Dann kamen der Niedergang der herstellenden Industrie, der Anstieg der Arbeitslosigkeit und die 1987 schließlich die Einführung der Kopfsteuer zuerst in Schottland. Die Unterstützung für die beiden großen Parteien brach ein, die Zahl derjenigen, die sich entrechtet fühlten, hingegen wuchs. Brown argumentiert, der Verlust von einer Millionen Arbeitsplätzen in Schottland sei auf die Globalisierung zurückzuführen. Eine stärkere Einheit könne die Auswirkungen der Globalisierung weitaus effektiver bekämpfen als zwei, durch eine Spaltung im Inneren und international geschwächte Länder.
Heute verteilen sich auf dreißig Prozent der Ärmsten der insgesamt 5,5 Millionen Schotten bloß 14 Prozent des Volkseinkommens. Im Jahr 2012 hatten dagegen die hundert reichsten Schotten 21 Milliarden Pfund an Vermögen angehäuft, berichtet der Autor Gerry Hassan in seinem Buch Caledonia Dreaming. Laut Angaben der Organisation Oxfam lebt ein im Bezirk Lenzie im Norden Glasgows geborenes Kind 28 Jahre länger als eines, das im benachteiligten Stadtteil Carlton zur Welt kommt. Es ist ein Mythos, dass in Schottland eine besondere Kultur des Egalitarismus herrsche – soziale Spaltung und sozialer Ausschluss sind ebenso real wie in anderen Teilen des Vereinigten Königreichs. Gleichzeitig hat die Union dazu beigetragen, den Lebensstandard der Nation zu heben (obschon die Ungleichheit zugenommen hat). Gordon Brown zitierte jüngst Zahlen, denen zufolge auf ein unabhängiges Schottland eine „Rentenzeitbombe“ zukomme. Bei dem Referendum indes geht es um etwas, das sich schwer beziffern lässt – nämlich die Ausübung von Macht im eigenen Namen. Auch wenn diese Machtausübung neue Verantwortlichkeiten mit sich bringt.
Fintan O'Toole von der Irish Times schrieb in der vergangenen Woche: "Nationale Freiheit ist kein anderes Wort dafür, nichts zu verlieren zu haben. Es ist ein anderes Wort dafür, niemanden mehr zu haben, dem man die Schuld geben kann. Das heißt, niemand außer sich selbst. Wer eigene Entscheidungen trifft, ist verantwortlich für deren Konsequenzen. Patriotismus ist ein Raketentreibstoff, der einen aus dem Orbit einer alten Ordnung befördern kann. Aber er verbraucht sich schnell und hinterlässt eine Abhängigkeit von sehr viel komplexeren und subtileren Leitsystemen zur Steuerung durch die einsamen Weiten des historischen Raums.“
Solch heikle Navigation verlangt in allen Bereichen der Regierung eine Führung von einem Kaliber, das schwer zu finden ist. Sie setzt voraus, dass die globalen Ereignisse günstig für das neue Land verlaufen und die Wahlbevölkerung die Geduld hat, zu akzeptieren, dass es Jahrzehnte braucht, bis angemessene Repräsentanz und die Reife erreicht sind, die Macht auf gerechte Weise auszuüben.
Sollte Schottland „Ja“ sagen, wird es ein kleiner Staat in einer habgierigen, globalisierten Wirtschaft sein. Doch Finnland, Estland, sogar das winzige Trinidad und Tobago mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern, zeigen, dass es möglich ist, unabhängig, innovativ und wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Und Schottland hat eine stillen Wandel seiner Wirtschaft durchlaufen – Teil dieser sind jetzt erneuerbare Energien, Leichtindustrien, Elektronik, Tourismus, Finanzdienstleistungen und die Kreativindustrien sowie der florierende Sektor des Hochschulwesens.
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