Zweite Welle des Zorns

Ägypten Säkulare Gruppen rufen für Freitag erneut zur Besetzung des Tahrir-Platzes auf: Gegen den mangelnden Reformwillen des Militärrates und die islamistische Gefahr

Die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft stagniert – eine „millionenstarke“ Besetzung des Tahrir-Platzes soll die Generäle zwingen, von deren gegenwärtiger „Roadmap“ zur Demokratie abzulassen. In einer immer verbitterter geführten Debatte, die zu einem Stellvertreterkrieg zwischen flügge werdenden Islamisten und säkularen Kräften des Landes führt, haben sich 40 linksliberale und linke Gruppen zusammengetan, um gemeinsam eine Verschiebung der für September anberaumten Wahlen zu fordern. Sie haben Angst, die Muslimbruderschaft könnte zu viel Einfluss auf den Entwurf einer neuen Verfassung erlangen, wenn zuerst das Parlament gewählt wird und dieses dann die Verfassung erarbeitet. Nach dem existierenden Post-Mubarak-Tableau werden die Wahlen nach einer ergänzten Version der vorhandenen ägyptischen Verfassung abgehalten, was die Chancen der Bruderschaft enorm erhöht.

Die hat entsprechend wütend auf die „Verfassung zuerst“-Kampagne reagiert. Die Islamisten argumentieren, diese widerspreche dem Ergebnis des im März abgehaltenen Referendums, bei dem sich 77 Prozent der Teilnehmer für eine Reihe von Verfassungsergänzungen ausgesprochen und die Idee unterstützt haben, die Parlamentswahl sollte dem Entwurf einer neuen Verfassung vorausgehen. „Die Ägypter werden zu den Versuchen einer unbedeutenden Elite nicht schweigen, dem Volk eine liberale und säkulare Verfassung zu oktroyieren“, heißt es in einer Erklärung der neuen Salafisten-Partei Al-Nour.

Übergangspremier Essam Sharaf hat die Debatte mit dem Vorschlag angeheizt, die Wahlen zu verschieben, um der „politischen Landschaft“ Ägyptens Zeit zu geben, sich zu formieren. Das entspricht eine Kernforderung vieler säkular revolutionärer Gruppen, die der Ansicht sind, sie hätten nicht genügend Zeit, sich zu organisieren, und würden aus diesem Grund den Muslim-Brüdern unterliegen, sollten die Wahlen schon im September stattfinden. Letztere sind in den meisten Städten und Dörfern des Landes bereits seit langem etabliert sind. Für seinen Vorstoß, die Wahlen zu stunden, musste sich der Regierungschef allerdings viel Kritik anhören. Das widerspreche der offiziellen Linie des Obersten Rates der Streitkräfte, der de facto die Macht inne hat, bis eine zivile Regierung steht, heißt es. Der Premier teilte daraufhin mit, seine Bemerkungen seien „missverstanden“ worden; der Zeitplan für die Wahlen bleibe so, wie er ist.

Anlass zur Sorge

„Bei dieser Debatte geht es nicht allein um kurzfristigen politischen Gewinn“, sagt der ägyptische Journalist Ashraf Khalil. „Wer bei den Parlamentswahlen triumphiert, wird bei der Abfassung der neuen Konstitution einen entscheidenden Part übernehmen und so das politische Fundament des neuen Ägyptens legen. Die Bedenken häufen sich, dass eine Reihe der neu gegründeten Parteien – unter ihnen viele, die für sich in Anspruch nehmen, die „revolutionäre Jugend“ zu vertreten und beim Sturz Mubaraks eine maßgebliche Rolle gespielt zu haben – noch nicht einmal den formalen Prozess der Registratur und Zulassung abgeschlossen haben und damit beim anstehenden Urnengang keine Chance hätten. „Die Bruderschaft ist bereit für Wahlen – sie ist das seit zehn Jahren. Die neuen Parteien, die unter Mubarak gar nicht existent waren, sind das nicht", fügt Khalil hinzu. „Ich erwarte keinen glatten Durchmarsch der Bruderschaft oder eine Art Gottesstaat nach iranischem Vorbild. Aber wenn die neuen Bewegungen, die in der Revolution eine so große Rolle gespielt haben, nicht angemessen im neuen Parlament auftauchen, wäre dies Anlass zur Sorge.

Das neue politische Instrument der Bruderschaft heißt Partei für Frieden und Gerechtigkeit, die verspricht, sich höchstens um 50 Prozent der Parlamentsmandate zu bemühen und keinen Präsidentschaftskandidaten zu stellen. Offenkundig ein Versuch, diejenigen im In- und Ausland zu beschwichtigen, die eine potenzielle islamistische Übernahme des Landes befürchten. Viele beruhigen solche Versicherungen keineswegs. Zu ihnen gehören auch die Mitglieder des Rates der Nationalen Einheit unter der Führung des Vizepremierministers. Sie verlagen, in die neue Verfassung einen Artikel aufzunehmen, der das Militär darauf verpflichten soll, die zivilen Institutionen des Landes zu verteidigen – eine recht unverhohlene Warnung vor dem Versuch eines islamistisch kontrollierten Parlaments, dem „Gottesstaat“ näher zu treten.

30 Millionen

Im Bestreben zu vermitteln, hat Mohamed El Baradei, aussichtsreicher Kandidat für das Präsidentenamt, vorgeschlagen, das Votum sollte wie geplant vor der Erarbeitung einer neuen Verfassung stattfinden. Doch sollte zuvor eine neue Bill of Rights verabschiedet werden, die an die Stelle der Verfassung treten, die Bedeutung der islamischen Scharia als Richtlinie für die Gesetzgebung anerkennen, aber zugleich Ägyptens Status als bürgerlicher Staat festschreiben könne. Dies fand gewisse Zustimmung, nur bleibt unklar, wie und von wem ein solches Dokument formuliert werden könnte.

„Wir müssen nach einem Kompromiss suchen“, sagt der politische Analyst Diaa Rashwan. „Wir haben uns bereits erbittert um die Frage der Verfassungszusätze gestritten und das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist eine weitere Schlacht, die die Dinge nur weiter destabilisieren könnte.“ Einige Aktivsten haben die gesamte Diskussion ohnehin als unnötige Ablenkung von der ihrer Meinung nach viel wichtigeren Aufgabe abgetan, eine neue Politik zu formulieren, die sich der sozio-ökonomischen Realität des Landes widmet und die Lebensbedingungen von 30 Millionen Ägypter verbessert, die unter der Armutsgrenze leben.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Jack Shenker | The Guardian

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