Zwiespältiger Triumph

Balkan Der Internationale Gerichtshof billigte dem Kosovo das Recht auf eine Unabhängigkeitserklärung zu. Doch die entscheidende Frage ist wie immer, wer diese anerkennt

Die internationale Meinung über die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 war zutiefst gespalten. Auf der einen Seite argumentierten die USA und viele wichtige Mitglieder der EU, es gebe keine Alternative dazu, das Kosovo seinen eigenen Weg gehen zu lassen. Die regionale Stabilität auf dem Balkan erfordere geradezu die Anerkennung der Tatsache, dass der Fall, ungeachtet möglicher Folgen, in Bezug auf das internationale Recht einen Sonderfall darstelle.

Im Gegensatz dazu argumentierten Russland und China, unterstützt von der Mehrheit der übrigen Staaten, das Kosovo könne nicht als Sonderfall behandelt werden. Wenn das Kosovo seine Unabhängigkeit erklären könne, könnten andere ihm folgen. In diesem Kontext gelang es Serbien, eine Resolution zu erwirken, um die Rechtmäßigkeit des Vorgangs vor dem Internationalen Gerichtshof überprüfen zu lassen.

Die weiteren Vorgänge waren faszinierend. Während die Länder, welche die Erklärung ablehnten, sich auf die üblichen Argumente bezüglich der Unantastbarkeit von Grenzen stützten, bedienten sich die Anerkenner-Staaten eines ganzen Bündels von Ansätzen, um das Recht des Kosovo, sich von Serbien loszusagen, zu begründen. Das möglicherweise entscheidende Argument lautete, der Erklärung der Unabhängigkeit komme für sich genommen juristisch überhaupt keine Bedeutung zu. Anders gesagt: Es wurde angedeutet, dass dem Gericht die falsche Frage gestellt worden war.

Doch es gab auch andere Argumente: das Kosovo habe unter der jugoslawischen Verfassung eine Sonderposition innegehabt; die Menschenrechtverletzungen, unter denen die Kosovo-Albaner während der Milošević-Ära litten, machten eine weitere Herrschaft Serbiens über die Provinz unhaltbar; nach einer gewissen Anzahl von Jahren unter internationaler Verwaltung sollte es das Recht auf eine vollkommene Unabhängigkeit haben. Ein Argument ging so weit, das Gericht müsse zugunsten der einseitigen Unabhängigkeitserklärung urteilen, da eine gegenteilige Erklärung schlicht ignoriert werden würde. Sollte das Urteil dem Willen der USA und den wichtigsten europäischen Staaten widersprechen, dann würde es einfach bedeutungslos sein.

Schlussendlich haben die Richter sich dafür entscheiden, die Frage so eng wie möglich zu fassen und sich allein auf die Unabhängigkeitserklärung zu konzentrieren, anstatt auf die Legitimität oder Gesetzmäßigkeit der Unabhängigkeit selbst. In diesem Punkt schlossen sie sich den Befürwortern der Unabhängigkeit des Kosovo an. Die Mehrheit der Richter war der Ansicht, dass eine Unabhängigkeitserklärung dem Völkerrecht nicht widerspricht.

Zweifellos bedeutet die Entscheidung einen Triumph für das Kosovo – allerdings nur in gewisser Hinsicht. Hätte es erfahren müssen, dass die einseitige Unabhängigkeitserklärung rechtswidrig war, dann wären die Staaten, die diese anerkannten, in eine Zwickmühle geraten. Doch dass der Gerichtshof sich auf die Erklärung beschränkte, bedeutet, dass die positiven Folgen für das Kosovo kurz- bis mittelfristig gesehen vermutlich begrenzter sind, als man meinen könnte. Staaten wie Russland und China, die die Unabhängigkeit des Kosovo als rechtswidrigen Akt der Abspaltung ablehnen, können an ihrer Position festhalten. Schließlich hat sich das Gericht in diesem Punkt nicht geäußert. Und so können sie argumentieren, mit einer Anerkennung des Kosovo würden einen ihrer Überzeugung nach rechtswidrigen Akt legitimieren. Das jedoch wird verhindern, dass das Kosovo der UN und anderen internationalen Organisationen beitreten kann. Aus diesem Grund scheint es, dass eine für beide Seiten akzeptable politische Lösung erst noch gefunden werden muss.

Doch zurück zur allgemeinen Lage: Welche Auswirkungen kann die Entscheidung auf andere sezessionistische Gruppen haben, die eine Eigenstaatlichkeit anstreben? Diese sind, kurz gesagt, minimal. Der Gerichtsentscheid bedeutet, dass jede beliebige Gruppe ihre Unabhängigkeit erklären kann. Doch entscheidend ist, ob diese anerkannt wird. Das war schon immer der schwierige Teil, und daran wird sich nichts ändern.


Übersetzung: Holger Hutt/ Christine Käppeler

James Ker-Lindsay ist Forschungsstipendiat an der London School of Economics mit dem Schwerpunkt Politik Südosteuropas. 2009 erschien von ihm das Buch Kosovo: The Path to Contested Statehood in the Balkans.

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Geschrieben von

James Ker-Lindsay | The Guardian

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