Im Jahr 1985, auf dem Höhepunkt der sowjetischen Besatzung Afghanistans, brachte der National Geographic als Aufmacher ein sehr schönes afghanisches Mädchen. Sie hatte keinen Namen, aber ihre faszinierenden, von Angst erfüllten grünen Augen und ihre markanten Gesichtszüge, die von einem purpurroten Kopftuch eingerahmt wurden, schienen eine Geschichte von Leid, verlorener Unschuld und nicht realisierten Träumen einzufangen, die weit tiefer reicht als die Erfahrungen eines einzigen Mädchens.
25 Jahre später brachte das Time-Magazin auf dem Titel ein anderes schönes afghanisches Mädchen. Auch sie hatte fesselnde Augen – braun, nicht grün – glänzendes schwarzes Haar und einen eindringlichen Gesichtsausdruck. Was dem Bild allerdings seine politische Kraft gab, war etwas, das an ihrem attraktiven Äußeren fehlte: ihre Nase.
An deren Stelle klaffte ein Loch, ein grässlicher zweiter Mund mitten in ihrem Gesicht. Wenn jene mittlerweile berühmten Augen auf dem Titel des National Geographic so beredt von der Not einer Nation erzählten, was sagte diese groteske Wunde dann über den Zustand des Landes im Jahr 2010? Das Time-Magazin schien die Frage in der Schlagzeile zu beantworten, die als Beitrag zur Debatte um die weitere Nato-Präsenz im Land zu verstehen war: „Was passiert, wenn wir Afghanistan verlassen“ – ohne Fragezeichen.
Ein Leben als Sklavin
Das Mädchen ohne Nase heißt Bibi Aisha, ist 18 Jahre alt und kommt aus der südafghanischen Provinz Oruzgan. 2009 war sie aus dem Haus ihres Mannes geflohen, der sie geschlagen und misshandelt hatte. Für afghanische Frauen nicht ungewöhnlich, lebte sie das Leben einer Sklavin. Sie war ihrem Mann gegeben worden als sie 12 war, um einen Streit zu schlichten – eine Praxis, die in Afghanistan unter dem Namen „baad“ bekannt ist.
Nach sechs Jahren voller Qual und Misshandlung entkam sie und floh an den einzigen Ort, an den sie gehen konnte – zurück zu ihrer Familie. Eines Nachts standen die Taliban vor der Tür und forderten die Herausgabe des Mädchens – ihr sollte der Prozess gemacht werden. Sie brachten sie zu einer Berglichtung, wo der örtliche Kommandant der Taliban sein Urteil sprach. Ihr Schwager hielt sie fest und ihr Ehemann schnitt ihr zuerst die Ohren und dann die Nase ab. Aisha wurde vor Schmerz ohnmächtig, wachte aber bald wieder auf, weil sie an ihrem Blut zu ersticken drohte. Ihre Peiniger und das Standgericht der Taliban hatten sie einfach liegen gelassen. Dem Time-Magazine zufolge sagte der Taliban-Komandant, der die Strafe angeordnet hatte, später, man habe an Aisha ein Exempel statuieren müssen, „damit andere Mädchen im Dorf nicht das Gleiche machen“.
Mit Hilfe der amerikanischen Armee brachten sie Mitarbeiter einer Hilfsorganisation in ein Kabuler Frauenasyl, das von der afghanisch-amerikanischen Organisation Women for Afghan Women (WAW) betrieben wird. Dort wurde sie bis August von ausgebildeten Sozialarbeiterinnen betreut – in dieser Zeit erschien auch das Time-Cover. Dann wurde Aisha nach Kalifornien gebracht, um am Grossman Burn Centre operativ versorgt zu werden. Die psychologische Untersuchung führte allerdings zu dem Ergebnis, dass Bibi zunächst noch weiter beraten und therapiert werden musste, bevor sie eine Einverständniserklärung zu der zermürbenden Reihe von Operationen abgeben konnte, die die plastische Wiederherstellung ihres Gesichts erforderte.
Ihre Prothese trägt sie nicht immer
Vergangenen Monat wurde Aisha dann nach New York gebracht, wo sie auch weiterhin von WAW betreut wird. „In Kabul hatte sie sich bei uns sehr wohl gefühlt“, sagt Esther Hyneman von WAW. „Sie war neun Monate bei uns gewesen. Als sie dann nach Kalifornien kam, baute sie wieder etwas ab. Wir glauben, dass das wirklich daran lag, dass sie ihre Freundinnen vermisste, die sie in dem Kabuler Frauenhaus gewonnen hatte. Hinzu kam ein großer Kulturschock und es gab Probleme, sie unterzubringen.“ WAW schob die Operation immer wieder auf. „Sie kann jetzt zu ihrem Äußeren stehen und versteckt sich nicht mehr. Ihre Prothese von Grossman Burn ist wirklich ein Kunstwerk. Wir ermutigen sie, sie zu tragen, was sie aber nicht immer tut“, sagt Hyneman.
WAW ist der Ansicht, der beste Weg für Aisha, sich an das Leben in Amerika zu gewöhnen, sei jener über die Bildung. „Sie ist nie zur Schule gegangen“, sagt Hyneman. „Es mangelt ihr an allgemeinem Grundwissen. Als ich ihr zum Beispiel eine Weltkarte gekauft habe, hatte sie keine Ahnung, wo sie war. Sie konnte auch Afghanistan oder Pakistan nicht finden. Dennoch ist sie verblüffend intelligent.“
Man unterrichtete sie in Englisch, Mathe und einigen weiteren grundlegenden Fächern. Aisha bringe bereits ein gewisses instinktives Gespür mit, wie man einen Computer bedient, sagt Hynemann. Das Problem dabei ist aber: Sie neigt dazu, nach Webseiten mit Bildern von Taliban zu suchen. „Und wenn sie sie sieht, dreht sie durch, weint und schreit, was die Taliban ihr angetan haben und anderen Frauen immer noch antun. Deshalb versuchen wir, sie davon abzuhalten“, sagt Hyneman.
Es ist offensichtlich, dass Aishas Geschichte zunächst einmal die traditionelle feministische Lesart des Kampfes der Frauen gegen die patriarchale Gesellschaft bestätigt. Dem Schicksal einer Haussklavin ausgeliefert, begehrte sie auf und bekam die brutale Gewalt der von Männern dominierten Stammesgesellschaft zu spüren. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass das teuflische Verbrechen an einem jungen Mädchen in diesem Kontext steht. Es ist jedoch nicht der einzige Kontext und für viele Kritiker des Time-Covers auch nicht der entscheidende. Weil zehntausende ausländische Soldaten das Land besetzt halten – die meisten von ihnen Amerikaner – sehen die Kritiker dieser Besatzung in jedem Versuch, die Nato-Truppen zu vertreiben, einen legitimen anti-imperialistischen Akt. Aus dieser Perspektive ist die nationale Befreiung grob gesagt immer wichtiger als die Emanzipation der Frauen.
Symbol oder Kriegspornographie
Für diejenigen, die wollen, dass die Nato-Truppen im Land bleiben, fungierte das Foto von Aisha daher als eine Art Symbol dessen, wogegen sie kämpften und für die, die wollen, dass sie abziehen, war es ein Stück emotionaler Propaganda oder „Kriegspornographie“:
Priyamvada Gopal, die in Cambridge Englisch lehrt, beurteilte das Bild in einem Kommentar für den Guardian (übersetzt auf freitag.de hier) als eine "zynische Strategie", um die Besatzung des Landes zu rechtfertigen. "Gewalt gegen Frauen ist nicht hinnehmbar", schrieb Gopal, "aber wir müssen auch berücksichtigen, dass immer wieder versucht wird, komplexe Dinge wie Krieg, Besatzung und die Wirklichkeit selbst auf Gutenachtgeschichten zu reduzieren."
Hyneman hält es sicherlich für ebenso verfehlt, sich allein auf Aishas Fall zu konzentrieren, „als wäre sie die einzige Frau, die eine solche Behandlung erdulden musste. Den Leuten muss klar werden, dass sie für diejenigen Frauen steht, die bereits tot sind, bedroht werden oder fürchten müssen, gesteinigt zu werden.“ Für Gopal sind diese Themen aber lediglich ein willkommener Anlass für leeres Moralisieren des Westens. Sie endete mit dem Schluss, Amerika habe Afghanistan nichts zu bieten als Krieg und Bikini-Waxing.
Hyneman ist es wichtig, der in radikalen Kreisen verbreiteten Ansicht zu widersprechen, die afghanischen Frauen seien ohne den Schutz und Einfluss der Amerikaner besser dran: "Anders als viele in der entwickelten Welt zu glauben scheinen, hat sich die Situation für Frauen in Afghanistan trotz der überwältigenden Schwierigkeiten verbessert."
In der Tat gibt es einige Errungenschaften, die man nicht leichtfertig unter den Tisch kehren sollte. Unter den Taliban war es Mädchen ab dem achten Lebensjahr verboten, zur Schule zu gehen. Heute gehen in Afghanistan mehr Mädchen zur Schule als jemals zuvor. Unter den Taliban durften im Radio keine weiblichen Stimmen erklingen (Fernsehen war komplett verboten), heute nehmen sie eine führende Rolle im Rundfunk ein. Früher war Frauensport ein absolutes Tabu, heute nehmen weibliche Athleten an internationalen Wettkämpfen teil. Früher stand auf Ehebruch Steinigung und Frauen wurden auf der Straße geschlagen, wenn sie auch nur die geringste Blöße zeigten und sich nicht völlig verhüllten Der informelle Dresscode ist zwar auch heute noch sehr restriktiv, aber 25 Prozent der Sitze des afghanischen Parlaments sind von Frauen besetzt.
Das Bild ist bei weitem noch nicht perfekt und es gibt in der schwachen und korrupten Regierung starke Kräfte, die die Uhr immer noch gerne wieder zurückdrehen würden. Gegenwärtig läuft gerade eine Initiative zur Schließung der Frauenhäuser, weil religiöse Konservative, ohne Beweise dafür vorbringen zu können, behauptet haben, sie fungierten als Bordelle.
WAW betreibt im ganzen Land fünf Frauenhäuser und plant, drei weitere zu eröffnen. Geplant sind auch fünf Familienzentren, in denen Männer, die eine Gefahr für ihre Frauen werden könnten, beraten werden. Die Organisation versucht auch, bei den Gerichten Schutz und Schmerzensgelder zu erwirken. Hyneman glaubt nicht nur, dass all diese Errungenschaften verloren gingen, sollten die Taliban wieder die Kontrolle erlangen, sondern auch, dass es ein Blutbad an den Frauen geben würde.
Unterwerfung als politische Strategie
"Das grundsätzliche Problem", sagt sie, "ist, dass hinter der Unterwerfung der Frau bei den Taliban eine politische Strategie steckt. Wenn man 50 Prozent der Bevölkerung in die Knie zwingt, kann man das Land kontrollieren. Es ist gleichzeitig auch ihre militärische Strategie. Sie benutzen die Frauen für militärische und politische Zwecke."
Was aber wird aus Aisha? Wohin geht sie jetzt? Ihre Mutter starb, als sie noch sehr klein war und Hyneman zufolge empfindet sie gegenüber ihrem Vater, der sie in die Arme des Mannes gegeben hat, der sie dann verstümmelte, keine große Zuneigung. Ihre jüngere Schwester könnte nach Informationen von WAW im Zuge des ausstehenden Blutgeldes bald ebenfalls an die Familie übergeben werden, die Aisha verstümmelt hat.
Noch so viele ausländische Soldaten können an der Situation der afghanischen Frauen nichts ändern. Es muss unglaublich viel Arbeit geleistet werden, um die kulturell und religiös sanktionierten Verhaltensregeln zu verändern und die Lebenserwartung zu erhöhen. Es fällt aber schwer, sich vorzustellen, dass derartige Bemühungen ohne den Schutz der Nato-Truppen gewagt werden könnten. Und selbst dann dürften viele afghanische Frauen in der Tradition mehr Sicherheit sehen, ganz egal, wie schlecht sie sie behandelt hat.
Frieden um jeden Preis?
2002 suchte der National Geographic nach dem Mädchen mit den grünen Augen. Sie fanden sie in der Nähe des Tora Bora-Gebirges, das von den Amerikanern bombardiert worden war, um Kämpfer der al-Qaida und Tailban aus ihren Verstecken zu treiben. Ihr Name ist Sharbat Gula. Ihr Leben war andauernd durch Kriege zerrissen worden und sie träumte davon, dass ihre Töchter eines Tages zur Schule gehen würden. Aber Gula sagte auch, das Leben unter den Taliban sei besser gewesen: „Wenigstens herrschte Frieden und Ordnung“.
Die Taiban, die in Afghanistan nur minimale Unterstützung genießen, wissen, wie sehr sich die Menschen nach Jahrzehnten des Krieges nach Frieden sehnen. Deshalb sind sie bereit, insbesondere gegen die afghanischen Frauen die abscheulichste Gewalt anzuwenden, um die Afghanen dazu zu bringen, sich ihrer Ordnung zu unterwerfen. Human Rights Watch hat Briefe gesammelt, die die Taliban an Frauen geschrieben haben, um sie einzuschüchtern und zu terrorisieren. In einem von ihnen heißt es: "Wir raten dir, deine Arbeit als Lehrerin so schnell wie möglich aufzugeben oder wir schneiden deinen Schülern die Köpfe ab und zünden deine Tochter an." Ein anderer droht mit einem Mord, der so grausam sei, dass "noch keine Frau auf diese Weise getötet" worden sei.
Jeder, dem es mit dem Kampf gegen die Gewalt gegen Frauen in Afghanistan ernst ist, muss diese traurige Realität zur Kenntnis nehmen, das ist das Allermindeste. Gleichzeitig ist, unabhängig davon, ob die ausländischen Truppen abziehen oder bleiben, selbst wenn es nur der Aufrichtigkeit der Debatte dient, klar zu benennen, um was es geht. Aishas Erfahrung erzählt nicht die ganze Geschichte, aber sie steht für eine entscheidende Nebenhandlung, die nicht vernachlässigt werden darf.
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