Charles ist ein Ehrfurcht gebietendes Raubtier, ein imposanter Wüstenlöwe mit schwarzer Mähne und einer riesigen Narbe an seiner Flanke, die ihm einst im Kampf eine Onyxantilope mit ihren Hörnern aufschlitzte. Acht Jahre ist er alt, ein Einzelgänger, nur Sehnen und Muskeln. Wenn er im Kaokoveld, einem Gebiet im Norden Namibias, auf Beutezug geht, zittern die Hirten. Die Dürre zwingt sie, immer weitere Kreise zu ziehen, um Weiden und Wasserstellen für ihre Herden zu finden. Die Dürre hat aber auch das Wild in der Savanne dezimiert, weswegen sich die Löwen über das Vieh hermachen müssen.
Bevor Charles einen Kraal anfällt, uriniert er auf seine Schwanzspitze und schwenkt sie mehrmals in die Richtung seiner Opfer, um mit seinem Raubtiergeruch Todesangst zu verbreiten. Ziegen und Rinder geraten in Panik, er braucht sie nicht mal selbst zu töten, sie trampeln sich gegenseitig nieder. In einer einzigen Nacht reißt Charles so Dutzende von Ziegen. Die Hirten, indigene Himba, verlangen, dass der Löwe abgeschossen werden darf, aber es ist schwer, die Erlaubnis vom Ministerium zu erhalten: „Denen in Windhoek ist ein Löwe mehr wert als unsere ganzen Kühe zusammen.“ Und wenn der Abschuss erlaubt wird, dann nicht den Himba selbst, sondern europäischen Großwildjägern, die für einen Löwen 60.000 Euro auf den Tisch legen.
Charles ist die zentrale Figur in Colin Niels Umweltthriller Unter Raubtieren, Jäger und Gejagter zugleich, Totem und Trophäe. Um ihn herum entfaltet der französische Autor seine Jagdszenen, die sich erst in der namibischen Wüste entfalten, dann mit derselben Unerbittlichkeit in den französischen Pyrenäen.
Hier, in den Bergen des Béarn, arbeitet der Biologe und radikale Tierschützer Martin als Hüter im Nationalpark. Ihn peinigt der Gedanke an all die Mammuts, Wollnashörner, Säbelzahntiger und Auerochsen, die in Europa ausgerottet wurden. Jetzt sucht er mit wachsender Verzweiflung den letzten Bären mit Pyrenäenblut, Cannellito genannt, von dessen Verbleib seit Monaten jede Spur fehlt. Dabei waren die Behörden kurz davor, Cannellito ein Weibchen aus Slowenien einzufliegen, gegen die Proteste der Bauern und Viehzüchter, die überall in der Gegend „Bären, nein danke“ plakatiert haben. So wichtig wie das Hüten des Bären ist Martin ein geradezu fanatischer Kampf gegen die Großwildjagd. Der Mord an den Raubtieren in Europa soll sich in Afrika nicht wiederholen. Mit seiner Antijagdgruppe „Stop Hunting France“ prangert er in den sozialen Medien Trophäenjäger an, die auf Bildern mit erlegten Krokodilen, Flusspferden oder Leoparden posieren. Sie durchkämmen das Netz, machen ihre Identität ausfindig und hetzen die Internet-Meute auf sie: „Ich sah uns als Whistleblower in Sachen Tierschutz.“ #BanTrophyHunting.
Eines Tages entdecken sie auch das Bild einer jungen Frau mit Jagdbogen und hartem Blick in Richtung Kamera, hinter ihr liegt Charles, der mächtige namibische Löwe, zu Boden gestreckt. Apolline Laffourcade ist Tochter eines wohlhabenden Vermögensverwalters, der ihr den Hightech-Bogen und die Jagd auf den Löwen zum 20. Geburtstag geschenkt hat. Auch sie ist eine Einzelgängerin, die sich selbst aus dem Internet heraushält. Aber natürlich wird Martin, da er eine Löwenmörderin ausgemacht hat, alles daransetzen, ihre Fährte aufzunehmen. Die Jägerin soll zu spüren bekommen, was es heißt, gejagt zu werden.
Blick für Landschaften
Der 1976 geborene Niel ist ein hervorragender Plotter. Mit seinem Roman Nur die Tiere machte er Furore, in dem er eine clevere Konstruktion mit feinfühliger Psychologie verband. Aus wechselnden Perspektiven ließ er die beteiligten Personen von einem Mord in der entlegenen Bergwelt des Zentralmassivs erzählen, aber auch von Einsamkeit und schwindender Hoffnung. Keine Ermittlerfigur brachte die Handlung in Gang oder die Wahrheit ans Licht. Sie stellte sich erzählend in den Worten der Bauern von selbst ein.
Auch in Unter Raubtieren verschränkt Niel wechselnde Perspektiven und verschiedene Zeitebenen, diesmal allerdings in epischer Serientauglichkeit. Dabei folgt der Roman dramaturgisch den sich zuspitzenden Etappen der Jagd: Beute ausmachen, Anpirschen, Nachstellen, Erlegen. Manches klingt vielleicht etwas überdeterminiert und das Spiel mit den wechselnden Rollen ist ein wenig erwartbar.
Denn dass Jäger zu Gejagten werden, ist für einen Kriminalroman kein ungewöhnliches Motiv. Das Beutemachen ist seit jeher entscheidender Antrieb für das Verbrechen, ob sexuell oder finanziell. Doch in diesem außergewöhnlichen Roman ist das Raubtier nicht nur Metapher: Niel ist von Haus aus Ökologe und Evolutionsbiologe, er schreibt mit Sachkenntnis, Gespür für komplexe Figuren und Blick für Landschaften. Vor allem aber verleiht er dem Animalischen eine fantastische Konkretion. Er weiß, wie Jagdinstinkte funktionieren, wann auch Raubtiere lernen, dass ein Köder Gefahr bedeutet– und wie gefährlich ein aus dem Rudel verstoßenes Männchen werden kann.
Unter Raubtieren Colin Niel Anne Thomas (Übers.), Lenos Verlag 2021, 403 S., 24 €
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