Was will er von ihr?

Roman Sara Mesa beschreibt eine zarte, unwahrscheinliche Freundschaft
Ausgabe 10/2020

Es ist kein bequemer Ort, den sich das Mädchen ausgesucht hat. Tag für Tag versteckt sie sich im Park hinter den Büschen, wo sie von niemandem gesehen werden kann. Wenn sie dort an einen Baum gelehnt ihre Zeitschriften liest, pikt das trockene Gras und drückt die Rinde. Und dann kommt immer wieder dieser seltsame Mann in ihr Versteck, ein schrulliger Typ in einem schäbigen Anzug, nicht unbedingt der Hellste, vielleicht sogar ein bisschen gestört. Einer, der allen sofort ein bisschen peinlich ist und nur von Vögeln spricht. Die Namen der beiden erfahren wir nicht. Das Mädchen nennt ihn spöttisch „Alter“, er ist vierundfünfzig, könnte in ihren Augen aber genauso gut vierundsechzig sein. Er nennt sie im Gegenzug Quasi, denn sie ist fast vierzehn.

Miteinander verbringen die beiden im Park die Vormittage, sie futtern Chips, sie üben, Rotkehlchen von Finken zu unterscheiden, und sie hören Nina Simone, die verstörte, verstörende Sängerin und Ikone des Widerstands in den USA, die der Alte schon deswegen verehrt, weil auch sie in die Psychiatrie gesteckt wurde. „Cause your mama’s name was lonely, and your daddy’s name was pain.“ Man verfolgt die Begegnung der beiden Außenseiter voller Unbehagen. Was hat der Mann vor? Warum schickt er das Mädchen nicht zurück in die Schule? Wann tut er ihr etwas an? Quasi erscheint der Alte harmlos, ein bisschen verkorkst, aber nicht böse. Er weiß viel über die nutzlosesten Dinge, aber kaum etwas über das Leben. Ihr ist es recht. Er forscht sie nicht aus, sie kann ihm erzählen, was sie will. Zuerst fantasiert sie sich ein großartiges Leben zusammen, in dem sie nicht unter ihrem dicken pubertierenden Körper leidet, doch nach und nach rückt sie mit der Sprache raus. Sie erzählt von den alltäglichen Gemeinheiten, die sie in der Schule ertragen muss, wo die gehässigste Schülerin den Ton angibt. Quasi wird von ihr nur „Brotgesicht“ genannt. „Cara de pan“ heißt der Roman auch im spanischen Original. Und die Lehrer machen alles nur noch schlimmer. Sie lassen nicht zu, dass Quasi sich fernhält von diesen Quälgeistern. Sich in die Gruppe einfügen, lautet die Parole, keine Extratouren. Gruppenarbeit fördert das Sozialverhalten. Eines Tages reichte es Quasi. Sie fabriziert ein Schreiben, um sich von der Schule abzumelden. Seitdem verbringt sie ihre Vormittage im Park.

Sara Mesas Kurzroman ist ein Buch der Beunruhigung. Man liest es in Erwartung des Schlimmsten. Es wird schockierende Momente geben, das pubertäre Mädchen kommt genauso wenig mit der Sexualität zurecht wie der verklemmte Mann. Doch die spanische Autorin zielt mit ihrer Geschichte nicht auf den Übergriff. Quasi ist nicht Lolita und kein Fall für den Staatsanwalt. Quasi erzählt von der Annäherung zweier Menschen, die den Zudringlichkeiten der Welt entfliehen wollen. Die Sensibilität, mit der sie einander begegnen, ist zutiefst berührend. Anstößig, sagt uns Mesa, ist nicht diese unwahrscheinliche Freundschaft, es sind die Ängste und das Misstrauen, mit denen wir von außen auf sie blicken. Die Provokation sitzt. Sie entfaltet ihre Wirkung auch durch die feine, diskrete Prosa, mit der Mesa sie von Anfang bis Ende durchzieht.

Mesas Parabel vom dicken Kind, das einfach nicht in den Schuh passen will, das man nach ihm wirft, ist Lehrstück und poetische Intervention zugleich. Die 44-jährige Schriftstellerin aus Sevilla opponiert gegen einen Konformismus, der früher eine androgyne Sängerin für bipolar erklärte und der heute die Polizei ruft, wenn ein Mann ohne Kind vor einem Spielplatz stehen bleibt. Der These der Autorin ist der Roman ganz und gar unterworfen. Er ist ein Plädoyer für das Recht, sich seinen unbequemen Platz in der Welt selbst aussuchen zu dürfen, doch in seinen schönsten Momenten so verschwörerisch und zart wie die Freundschaft zwischen diesen beiden schrägen Menschen.

Info

Quasi Sara Mesa Peter Kultzen (Übers.), Wagenbach 2020, 140 S., 18 €

Langgliedrige Figuren

Die Bilder dieser Ausgabe stammen vom Illustratoren-Duo ZEBU, das sich 2015 in Berlin gründete. Die beiden Künstler*innen sind gebürtige Berliner, sie lernten sich in der Graffiti- und Urban-Art-Szene kennen. Lynn Lehmann studierte an der Kunsthochschule Weißensee, Dennis Gärtner an der Universität der Künste. Mehr Info: www.z-e-b-u.com

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