Nazis im Tutu

Männlichkeit Ein neuer Bildband zeigt Wehrmachtssoldaten in Frauenkleidern. Ist das Karneval oder Gender Bending?
Ausgabe 46/2018

In den ersten Junitagen 1940 warf sich der Gefreite Otto in ein Baströckchen und schnallte sich einen ausgestopften Büstenhalter um. Sein Kamerad, Unterfeldwebel Fritze, ebenfalls im Tutu und mit ausladendem Federschmuck auf dem Kopf, spielte die Trommel, während der Gefreite Otto zum Bauchtanz ansetzte. Die deutschen Truppen rückten da gerade in Richtung Seine vor. Die ersten politischen Flüchtlinge wurden nach Auschwitz gebracht, und zwei Wochen später unterzeichnete Hitler den für ihn ruhmreichen Waffenstillstand von Compiègne

Dass die abstruse Tanzszene, mitten im Krieg, stattgefunden hat, wissen wir, weil es eine einzige Fotografie davon gibt. Versehen nur mit einer Datierung. Der Berliner Maler und Fotograf Martin Dammann hat das Bild gefunden. Über 300 solcher Fotos hat er gesammelt: Wehrmachtssoldaten in Frauenkleidern, in ausgestopften BHs, in langen Roben, mit Perücken, in inniger Umarmung, tanzend, küssend. Manche klamaukig, andere intim.

Zöpfe bis zum Po

Sein Bildband Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht versammelt 118 der Bilder und ist gerade beim Hatje Cantz Verlag erschienen. Oder, wie es Dammann formuliert: Er hat die Bilder zur Diskussion gestellt. Denn die Fragen, die sich aus der Bauchtanz-Szene ergeben, kann Dammann nicht beantworten. Warum hatten sich die Soldaten verkleidet, als Maskerade oder Travestie? Sehnten sich die Männer von der Front nach ihren Frauen in der Heimat – oder genossen sie den Moment mit den Kameraden? Rebellierten sie gar gegen starre Männlichkeitsideale der Wehrmacht? „Für mich ist das auch ein Experiment mit der Öffentlichkeit. Ich bin ziemlich gespannt darauf, wie die Bilder in die gesellschaftliche Diskussion aufgenommen werden“, sagt Dammann.

Die Fotos kommen von Händlern, Sammlern und Privatleuten, Dammann hat sie auf Militaria-Börsen in ganz Europa gesammelt. Die Formate variieren von Kleinbildabzügen bis zu Postkartenformaten. Tausende Bilder hat Dammann gesichtet. Pro 20 bis 30 Fotoalben stieß er auf ein oder zwei Fotografien von Kameraden in Drag. „Ich habe etwas spüren können, das der Vorstellung, die ich von Soldaten hatte, völlig zuwidergelaufen ist Es sind ungesehene Bilder, die es einem erlauben, Bilder zu hinterfragen, die man schon viel gesehen hat“, sagt er.

Wie die Bilderserie vom Osterfest des 6. Artillerieregiments 1940 in Emmelbaum, in der Eifel, nahe der französischen Grenze. Die Serie ist im sogenannten „Sitzkrieg“ entstanden, als die deutschen Soldaten in menschenleeren Dörfern an der deutsch-französischen Grenze ausharrten – also kurz vor der Front. Vier Soldaten tragen Kleider und geblümte Schürzchen, zwei Zöpfe bis zum Po und ein Kopftuch. Sie ziehen mit Posaune in den Gutshof, schlachten offenbar ein Huhn, posieren auf einem Motorrad und liegen sich auf dem letzten Bild in den Armen. Gerade unmittelbar vor der Front sei die Sehnsucht nach Geborgenheit und einem Partner am greifbarsten, schreibt Dammann. Er hat die Bilder grob kategorisiert: in Ulk- und Klamaukszenen der noch jugendlichen Rekruten in der Abgeschlossenheit ihrer Kasernen, organisierte und einstudierte Theaterstücke vor Publikum bei militärischen Festen und Theateraufführungen fernab der Front sowie spontane, improvisierte Verkleidungen an der Kampflinie.

Aber: Warum taten die Soldaten das? In der Pressemitteilung zu Soldier Studies ist, etwas pathetisch, die Rede davon, dass die Soldaten in den selbst organisierten Inszenierungen ihre „Sehnsüchte nach weiblicher Emotionalität und Sexualität sublimierten“. Im Nachwort schreibt der Soziologe Harald Welzer, es sei kaum möglich, „zu dechiffrieren, welche Rolle jeweils den Ersatz für die fehlende reale Frau, welche ein literarisches Vorbild und die Ermangelung der Schauspielerin und welche ein subkutanes Ausleben eines sexuellen Bedürfnisses repräsentiert. Das weiß man nicht und wird mal so, mal so gewesen sein.“ Unbefriedigender könnte ein Urteil kaum ausfallen.

„Das hat nicht zwangsläufig mit Sexualität zu tun“, meint dagegen der Sexualhistoriker Rainer Herrn auf Nachfrage. Crossdressing sei bereits im Ersten Weltkrieg ein Phänomen gewesen. Gerade die weibliche Verkleidung in staatlich organisierten Fronttheatern ist gut erforscht.

Drags der Weimarer Zeit

Seit der Weimarer Zeit habe es auch im zivilen Leben eine lebendige Szene des Crossdressings gegeben, sagt Herrn. Es seien in der Regel verheiratete, heterosexuelle Männer gewesen, die auf dem Land lebten und für Ausflüge nach Berlin kamen, um ihre Leidenschaft, Frauenkleider zu tragen, auszuleben. „Die hatten eine eigene Infrastruktur mit Fotografen, mit Lokalen, mit Transvestitenpensionen und eigene Schneidereien und Schuhgeschäfte. Männer haben ja andere Kleidergrößen als Frauen“, so Herrn.

Dem Zweiten Weltkrieg war eine kurze Phase sexueller Freiheit vorausgegangen. Davon profitierte auch die Szene der Crossdresser. Männer in Frauenkleidern in der Öffentlichkeit konnten zwar nach den Paragrafen 360 (Grober Unfug) und 183 (Erregung öffentlichen Ärgernisses) belangt werden – allerdings nur in der Öffentlichkeit. Wer oft in Drag unterwegs war, dem sei bisweilen sogar eine polizeiliche Bestätigung ausgestellt worden, der sogenannte „Transvestitenschein“. Kein Freischein, sondern eine Bestätigung, polizeibekannt zu sein, sagt Herrn. Von einer Festnahme wurde dann in der Regel abgesehen. „Diese Scheine wurden selbst in der Nazi-Zeit noch ausgestellt.“ Dem Historiker zufolge wurde allerdings strikt zwischen homo- und heterosexuellen Transvestiten unterschieden. Erstere mussten mit mehrjährigen Haftstrafen rechnen.

Und die Soldaten? Für die könnte die Verkleidung der einzige Weg gewesen sein, sich nahezukommen, sagt Herrn. „Körperlicher Kontakt war nur über ein polares Geschlechterverständnis möglich. Um sich nicht dem Homosexualitätsverdacht auszusetzen, war das ein wichtiges Moment.“

Der Militärhistoriker Thomas Kühne, Direktor am Strassler-Zentrum für Holocauststudien, geht sogar noch einen Schritt weiter. Momente wie die der Wehrmachtssoldaten in Frauenkleidern stünden nicht nur in keinem Widerspruch zu militärischer Männlichkeit – sie gehörten sogar dazu. „Das militärische Männerbild ist viel flexibler, als es oft wahrgenommen wird“, sagt Kühne. Das Tragen von Frauenkleidern könne auch eine Machtdemonstration sein. „Sie bedeutet: Ich kann alles. Ich kann es mir erlauben, unterschiedliche emotionale Momente zur Schau zu stellen, weil ohnehin niemand an meiner Männlichkeit zweifeln würde.“ Selbst die Momente körperlicher Nähe würden eine Überlegenheit demonstrieren: die des Männerbundes. „Sie zeigen: Wir können sogar die Zärtlichkeit von physischen Frauen ersetzen“, sagt Kühne. Kern der Maskerade sei die zeitliche Begrenztheit. Für eine halbe oder eine Stunde sei das Zeigen weiblich codierter Schwäche akzeptiert. „Solche Momente dürfen in einem militärisch-männlichen Kontext aber nie dauerhaft sein. Das sind Phasen, Momente der Schwäche, die man überwinden muss. Der Mann, der sich darin verliert, ist kein richtiger Mann, sondern ein Schlappschwanz.“

Info

Soldier Studies Martin Dammann (Hrsg.) Hatje Cantz 2018, 128 S., 28 €

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