Die Nacht im Reservat der Tohono O’Odham ist so klirrend kalt, wie es Nächte nur in der Wüste werden. Auch so dunkel, dass man die Hand vor dem Gesicht kaum erkennen kann und die Armeen grüner Saguaro-Kakteen im Mondschein aussehen wie „Aliens“, als Fremde: die Arme hochgestreckt, als hätte man auch sie beim illegalen Grenzübertritt gestellt. Stehenbleiben! Border Patrol!
Das Reservat der Tohono O’Odham umfasst rund 12.000 Quadratkilometer Land, auf denen 28.000 Menschen leben. Das Gebiet liegt zur einen Hälfte in Mexiko, zur anderen in den USA. Dazwischen stand vor zehn Jahren ein Drahtzaun, den längst eine dichte Reihe von Metallpfählen ersetzt hat. Künftig – sollte es nach Präsident Trump gehen – wird mitten im Reservat eine massive Mauer stehen. Nicht, wenn es nach den Tohono O’Odham geht. In O’Odham, der indigenen Sprache, gibt es nicht einmal ein Wort für Mauer. Nur eines für Grenze oder für den Zaun einer Kuhweide.
Nur über seine Leiche
Sein Land werde nur über seine Leiche geteilt, sagte der Führer des Stamms vor einem Jahr. Die Tohono O’Odham sind eine souveräne Gemeinschaft. Wenn sie sich den Mauerplänen verweigern, müsste Donald Trump sie erst enteignen, bevor er auf ihrem Territorium bauen kann. Endet dagegen die Mauer an der Grenze zum Reservat, könnte das Land der Tohono O’Odham zum Nadelöhr für Immigration und Drogenschmuggel werden.
Für die hageren, durstigen Menschen, die sich durch die Wüste schleppen, hat man auf US-Territorium zwei Begriffe. Die einen nennen sie Immigranten, die illegal über die mexikanische Grenze schleichen. Selten haben sie genügend Wasser dabei und bleiben manchmal in der Hitze liegen, bis ein vorbeifahrender Tohono O’Odham sie findet. Die anderen sprechen von Aliens, die Rucksäcke voller Kokain, Meth und Mariuhana schleppen und alles Unheil in das friedliche Reservat bringen.
Die NGO Humane Borders zählte im Vorjahr mindestens 40 Tote auf dem Gebiet des Reservats. Die meisten starben durch einen Hitzschlag. Oft waren die Toten nur noch Skelette und so verwest, dass sich keine Todesursache mehr bestimmen ließ. Lange haben die Tohono O’Odham die Toten bestattet und Überlebende in ihren Gesundheitsstationen behandelt. Aber längst sind nicht mehr alle mit dieser Solidarität einverstanden. David Garcia hat das zu spüren bekommen. Früher fuhr er mehrmals wöchentlich in seinem Jeep die weitläufige rote Wüste ab, deponierte Wasserkanister und suchte nach den Körpern jener, die es nicht rechtzeitig zu den Notreserven geschafft hatten. Manchmal begleiteten ihn dabei Aktivisten von Hilfsorganisationen. Garcia war Mitglied der Regierung der Tohono O’Odham, eine geschätzte Autorität. Jetzt sitzt er in einer kleinen Wohnung einige Kilometer außerhalb des Reservats. Das Zimmer ist vollgestopft mit gemalten Bildern und Fotografien vom Leben, das er zurückgelassen hat. Garcia fiel in Ungnade, als sich die Berichte von gestohlenen Autos und Einbrüchen häuften und es Morde an Indigenen in Verbindung mit dem Drogenschmuggel gab.
„Die haben einfach Angst“
Sprecher der Tohono O’Odham begannen, mit den Grenzkontrolleuren zu kooperieren, die Arbeit von Garcia war ihnen ein Dorn im Auge. Ermutigte nicht das Wasser in der Wüste die Immigranten? Garcia verlor seinen Posten im Rat des Stammes und packte schließlich seine Habseligkeiten, um außerhalb eine Bleibe zu suchen. Er fährt sich zerstreut durch die hüftlangen, silbernen Haare. Er verstehe seine Brüder und Schwestern: „Die haben einfach Angst“.
Es ist acht Uhr am Morgen und schon gleißend hell und warm, als Mathias Valenzuela am Grenzposten Lukeville in Richtung USA späht. Die Grenze besteht aus einer Reihe rostiger, drahtumspannter Metallpfähle, die sich in einer fast geraden Linie bis in die Berge ziehen, dazu ein Polizeiwagen, in dem zwei Grenzpolizisten mit der Maschinenpistole auf dem Schoß träge das Geschehen verfolgen. In Lukeville dürfen nur Tohono O’Odham die Grenze überqueren. Es ist der letzte von einst sechs offenen Übergängen innerhalb des Reservats.
Valenzuela muss die Augen zusammenkneifen, um im Gegenlicht am Horizont den Kleinwagen seiner Tante zu erkennen. Er ist O’Odham, aber sein Pass ein mexikanischer. Valenzuela lebt in der Südhälfte des Reservats im mexikanischen Bundesstaat Sonora und wehrt sich an vorderster Front gegen die Mauer. Hier am Grenzübergang hat wenige Monate zuvor eine große Kundgebung stattgefunden, bei der er aus voller Brust traditionelle Kampflieder gesungen hat. Heute ist er aus einem anderen Grund hier: Es gibt im Süden nur wenige Lebensmittelgeschäfte und fast keine medizinische Versorgung. Immer wieder sind die Bewohner des südlichen Reservats darauf angewiesen, die Grenze zu überqueren.
Ein Kleinwagen stoppt an der Grenze, Valenzuelas Großmutter steigt aus, eine kleine, grauhaarige Dame im bunten Kleid. Eine Cousine öffnet das schwere Tor aus Metall und Stacheldraht. Die Grenzpolizisten schrecken aus ihrer Lethargie und rollen auf die Gruppe zu, um sich die Papiere zeigen zu lassen. Viele der Tohono O’Odham haben Verwandte im anderen Teil des Reservats. Die Großmutter tippelt über die Grenze und lässt sich erschöpft in den Pickup-Truck ihres Enkels fallen.
Valenzuelas Vater war Korbflechter, seine Mutter verkaufte Käse. Wenn das Geschäft auf den Märkten in Mexiko nicht lief, konnten sie alles einpacken und ihr Glück auf der US-Seite versuchen. Valenzuela: „Wir sind jeden Tag über die Grenze zur Schule. Da waren zwar Polizisten, aber die haben uns nie gestört, waren immer respektvoll.“ Seit das Grenzgebiet militarisiert wurde, sei das anders. Einige Tage war Valenzuela im Norden auf Jagd und hatte die Ausweispapiere zu Hause gelassen. „Die Grenzpolizisten haben uns zu verstehen gegeben, beim nächsten Mal nehmen wir euch fest. Dabei ist das hier auch unser Land. Ich bin in den USA geboren, habe in der Army gedient und gehöre plötzlich nicht mehr dazu.“
Auf der anderen, der amerikanischen Seite schiebt Nelly Joe David ihre doppelte Portion Hühnchen-Burrito missmutig von einer Tellerseite auf die andere. Sie hat dieser Tage viel zu tun: ein neues Forschungsprojekt, das Studium und die Initiative „In(di)visible Tohono“, mit der junge Indigene durch Sit-Ins gegen die Mauer protestieren. Der Kofferraum ihres kleinen Autos ist vollgestopft mit T-Shirts, auf denen „O’Odham, wacht auf“ und „Stoppt die Militarisierung der Grenze“ steht. Nelly ist im Reservat aufgewachsen, ihre Mutter indigen, ihr Vater weiß. „Ich habe früh erfahren, was Diskriminierung bedeutet.“ Sie erlebte Drogen und Alkohol, Kriminalität und Krankheit. In ihrem Heimatdorf Ajo sei die Mordrate zuletzt durch die Decke gegangen. „Wir sind mit den Kindern von Drogendealern und den Kindern von Grenzbeamten aufgewachsen. Für uns war das immer eins: Alle haben geschmuggelt, alle daran verdient“. In der Wüste der Tohono ist das Kasino Desert Diamond größter Arbeitgeber, der damit wirbt, auch Schulabbrecher und Ex-Häftlinge einzustellen.
Nelly sah die trostlosen Biografien ringsherum, die Selbstverständlichkeit, mit der in anderen Familien über Drogenschmuggel gesprochen wurde. „Es war schwer, von den Kartellen wegzubleiben. Die waren ein Teil unseres Lebens.“ Nelly schwor sich, nie mit einem Dealer auszugehen. Dann bekam ihr erster Freund ein Angebot: 1.000 Dollar fürs Schmiere stehen. Als eine von wenigen schafft sie es trotzdem, das Reservat hinter sich zu lassen. Nelly studierte Jura an der Universität Arizona und schloss sich als erste indigene Juristin einer Forschungsgruppe zu indigenen Landrechten an. Sie kenne die Probleme der Grenzregion, eine Mauer sei dafür keine Lösung. Die Drogen fänden schon lange ihren Weg, vorbei an Kontrollposten und Überwachungstürmen. Sie würden ihn auch über die Mauer finden.
Dabei ist die Abschottung der Grenze keine neue Idee. Präsident Bush unterzeichnete schon 2006 den „Secure Fence Act“, der dazu führte, dass die Grenzpolizei aufgestockt und besser ausgerüstet wurde. Erst kamen die Nachtsichtgeräte, mittlerweile sirren Drohnen über die Dörfer der O’Odham. Nelly sagt, sie werbe schon seit Jahren für alternative Lösungen statt einer stärkeren Militarisierung. „Erst jetzt hört man mir zu, weil es da diesen bösen Typen gibt, der eine Mauer bauen will.“
Sie kramt in ihrem Rucksack nach Papieren und zieht eine Landkarte aus einem Ordner, darauf fünf rote Kreise. Sie markieren, wo die Regierung Arizonas Beobachtungstürme bauen will, um das Reservat rund um die Uhr mit Infrarot und Nachtsicht überwachen zu können. „Die Immigranten, aber eben auch uns“ sagt Nelly.
Es ist eigentümlich unruhig, als die Nacht über das Reservat kommt. Indigene treffen sich zu einem Volksfest. Frauen frittieren Burritos und Tacos, und als die Sonne untergegangen ist, spielt eine Band zum Waila auf, einer Art Countrymusik. Ist es dunkel, gehört die Bühne den Cowboys. Es gibt hier kaum andere Möglichkeiten, ein paar Dollar zu verdienen. Auf einen durchdringenden Ton hin stürzt ein Rind aus dem Gatter, jeweils zwei der Männer und Frauen schwingen ein Lasso, um es zu fangen. Strahler tauchen die staubige Szene in gleißendes Licht.
Sind die Rodeo-Preisgelder verteilt und die letzten Angetrunkenen auf dem Weg nach Hause, gehört die Nacht wieder den Schlangen und Skorpionen, den Aliens und dem Grenzschutz, Sensoren und Drohnen, kernigen Cops zu Pferde oder im Geländewagen. Ihre Jeeps pflügen über den Boden, wo die Ahnen der Tohono O’Odham begraben liegen. Alle paar hundert Meter strahlen die blauen Lichtsäulen der Nottelefone in den Himmel. Strandet ein Immigrant in der Wüste, kann er die Polizei rufen, wird festgenommen, und zurückgefahren. Einige der Einheimischen sind überzeugt, die Aliens würden ihre Drogenpäckchen über die Grenze tragen, sie fallen lassen, Hilfe rufen und sich von der Grenzpolizei zurück nach Hause bringen lassen.
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