Der Bühnenhimmel hängt tief im Leipziger Schauspiel. Die Traversen mit der Lichttechnik sind weit nach unten gefahren. Mehr Kabel als nötig baumeln unordentlich zwischen den Scheinwerfern – ein Hinweis darauf, wie komplex Welt und Geschichte sind. Kurz vor der Pause steht Gesine Cresspahl (authentisch distanziert: Sonja Isemer) einsam darunter und ist in Erklärungsnot – warum hat sie nicht gegen den Vietnam-Krieg demonstriert? Die Lichter flackern immer wilder, bis alles dunkel wird.
Ausstatterin Katrin Connan hat die Bühne mit drei weißen Stoffwänden abgehängt. Vorne stehen weiße Quader, auf die sich die Schauspielerinnen und Schauspieler setzen. Unvermittelt beginnen sie zu berichten, wie sie die Vorlage für diesen Abend, den R
end, den Roman Jahrestage erlebt haben, versuchen das 1.700 Seiten starke Werk zu fassen: Uwe Johnson erzählt von Gesine Cresspahl, die nach New York ausgewandert ist. Für jeden Tag im Jahre 1967/68 gibt es ein Kapitel. Da Gesine leidenschaftlich Zeitung liest, zeichnet der Roman auch ein Porträt der USA in den Sechzigern. Gleichzeitig ist es ein Historienroman über Gesines Familie während des Aufstiegs der Nazis in Norddeutschland. Johnson zeigt, dass sich (Gewalt-)Geschichte wiederholt, dass wir Vergangenheit vererben und Erinnerungen fragil sind. Allerdings weist der Schauspieler Denis Petković auch darauf hin, dass Johnsons Roman rassistische Elemente enthielte, ein Produkt seiner Zeit sei.Mal Jerichow, mal New YorkSicherlich ist diese Einführung für Menschen hilfreich, die den Roman nie gelesen haben, aber etwas lang. Und die Erklärungen klingen wie aufgesagt. Die Macher des Abends, Anna-Sophie Mahler und Falk Rößler, machen es sich in ihrer Fassung leicht: Sie entziehen sich der Herausforderung, entweder der Vielschichtigkeit des Textes hinsichtlich Fragen über Macht, kollektive Schuld und Sprachpolitik zu begegnen oder auf eines der Themen zu fokussieren.So konzentriert sich die Inszenierung vor allem auf die erzählbare Handlung: wie sich Gesine und ihre Tochter Marie (gekonnt zwischen kindlich und altklug: Paula Vogel) ein Leben einrichten und wie Gesines Eltern zueinandergefunden und sich wieder entzweit haben. Das Ensemble trägt die weißen Quader über die Bühne, die mal die Eckpunkte des norddeutschen Örtchens Jerichow markieren, mal die New Yorker Skyline andeuten oder eine Wohnung begrenzen. Auf einem der Podeste liegt ein Stapel Zeitungen und Thomas Braungardt deklamiert die damaligen Schlagzeilen. Dabei hebt das Team Vietnam und Anti-Rassismus-Demos hervor.Nachdem Anna-Sophie Mahler als Haus-Regisseurin zwei Musiktheater-Projekte in Leipzig realisiert hat, arbeitet sie auch dieses Mal mit Live-Musik. Dafür sitzt erneut Michael Wilhelmi am Klavier, Martin Wenk spielt Gitarre und Trompete und das Ensemble überrascht mit musikalischen Qualitäten. Meist bleibt die Musik im Hintergrund – Bach für Jerichow und Jazz für New York.Placeholder image-1So plätschert der erste Teil dahin, bis Gesine die Frage nach dem Protest gestellt bekommt. Die Inszenierung erklärt nicht, warum die Kriegsgegnerin nicht gegen den Krieg demonstriert. Damit bekommt die Frage angesichts des russischen Angriffskriegs eine andere Wucht. Nach der Pause nimmt der Abend Fahrt auf: Braungardt setzt sich in schwarzer Lederjacke vor den roten Vorhang und wird zum Autor Johnson, der vor dem American Jewish Committee versucht zu erklären, warum in Deutschland alte Nazis an die Macht kommen. Das sind nach wie vor aktuelle Gedanken, bedenkt man, wie viele Menschen glauben, Deutschland sei Aufarbeitungsweltmeister.Hinter dem Vorhang sitzt Gesines Familie in einem Stuhlkreis, der in seiner Banalität fast zeitlos wirkt. Der Großvater fragt sich, ob er seinen Kindern alles vergeben muss und will seinen von den Nazis überzeugten Sohn ins Ausland schicken. Die Wutausbrüche von Andreas Keller und Denis Petković hallen nach. Auch Bettina Schmidt als Großmutter und Amal Keller als Mutter von Gesine sorgen mit ihrer berechnenden Kälte für einen Schauer. Als Gesine ihrer Tochter erzählt, wie ihre Mutter sie ertränken wollte, um sie vor einer Schuld zu bewahren, ist Marie geschockt. Die Frage drängt sich auf: Welche Schuld habe ich geerbt? Das versucht Gesine ihrer Tochter zu vermitteln und nimmt Bänder mit der Familiengeschichte auf. So steht Sonja Isemer dann in der Mitte der Bühne vor einem Mikro, während Paula Vogel und Petković Eleanor Rigby von den Beatles singen. Es ist die berührendste Szene des Abends.Am Ende wirft eine Discokugel Lichtmuster auf die Bühne, die an die Wellen erinnern, von denen Gesine am Anfang erzählte. Über der Bühne steht „Ende Teil eins“. Ob auch die anderen Bücher des Roman-Vierteilers umgesetzt werden, ist noch nicht bekannt. Die größte Leistung dieses Abends ist, dass sie diesem nach wie vor brisanten Jahrhundertroman im wahrsten Sinne eine Bühne gibt. Durch die Konzentration auf die äußere Handlung ermöglicht die Inszenierung einen guten Einstieg in den Mammuttext. Nur noch etwas mehr Einfallsreichtum wäre schön gewesen.