Angesichts der Effekte, die die Hartz-IV-Gesetze für die unmittelbar Betroffenen, darüber hinaus für den größten Teil der einfachen Arbeitnehmerschaft und letztendlich für den Binnenmarkt haben wird, erscheint der Streit um die angemessene Etikettierung der montäglichen Sozialproteste nebensächlich. Doch gerade diese kapriziös wirkende Debatte um Symbole verrät viel über die neuen Kräfteverhältnisse und die künftigen politischen Bruchlinien in der Berliner Republik.
In Politik und den Medien haben nun mehr und mehr die Angehörigen eines modernisierten und individualisierten, hedonistisch wie leistungsorientierten bürgerlichen Milieus das Sagen. Sie mussten sowohl in West- wie in Ostdeutschland keine Armutserfahrungen mehr machen. Nun schließen sie die Pforten, die zur Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum führen und lassen die für sie Überflüssigen, also die auf Beschäftigung Angewiesenen, im Regen stehen.
Als ein rational begründetes Notopfer zur Besserung der Lage kann Hartz IV nicht gelten: Die bei den Arbeitslosen eingesparten Milliarden produzieren nicht nur Armut und soziale Unruhe, sondern werden in vollem Umfang die Binnennachfrage noch weiter schwächen. Die eingesparten Milliarden werden zu einem großen Teil über Steuersenkungen den Besserverdienenden und Vermögenden zugute kommen - und damit lediglich die Vermögenswirtschaft weiter antreiben. Der öffentlichen Hand wie auch der inländischen Realwirtschaft sind sie entzogen. Durch diese verschwenderische Politik schränkt der Staat seine Handlungsmöglichkeiten noch weiter ein. Die öffentliche Hand ist nun leer und kann den Bedürftigen nur noch die Faust zeigen. Statt Investitionen und Jobs kann der Staat den Wütenden nur noch Polizei und BGS schicken - Ende einer Beziehung. Man braucht große Teile der Bevölkerung nicht mehr. Nicht mehr als Arbeitskräfte. Nicht mehr als systemloyale Wähler.
Diese neue egoistische Haltung des modernisierten Bürgertums des 21. Jahrhunderts zeigt sich in den rhetorischen Figuren, mit denen die Etikettierung aktuellen Sozialproteste als "Montagsdemonstrationen" zurückgewiesen werden. Clement sprach von einer "Zumutung" und "Beleidigung", Bütikofer von "Schande" und "Missbrauch" der einstigen Proteste gegen die DDR-Diktatur. Die sächsische Grünen-Abgeordnete Antje Hermenau meint, dass es 1989 um "die Freiheit" und nicht um "Wohlstand" gegangen sei. Ihr Kommentar ist eine Form des bewussten Nicht-Verstehen-Wollens, ähnlich der Kommunikation der SED-Machthaber in der DDR: Wenn sich die DDR-Bevölkerung darüber erboste, dass man nicht in den Westen reisen, ganzjährig Bananen kaufen oder keine politischen Parteien gründen konnte, gab man ihnen die indirekte "Antwort", dass sie statt dessen in "sozialer Sicherheit" lebten und niemals arbeitslos werden würden. Das entsprach den Tatsachen, war aber dennoch die falsche Antwort - ebenso wie der Hinweis, dass diejenigen, die unter Hartz VI leiden, nicht unter einer Diktatur leiden würden.
Während die DDR-Propaganda damals lieber die "soziale Sicherheit" gegenüber "kapitalistischer Ausbeutung und Arbeitslosigkeit" pries, streicht man heute die bestehenden bürgerlichen Freiheiten heraus und grenzt sie von den Unfreiheiten der Diktatur ab. Abstrakt ist das alles richtig, konkret sind es jedoch gelogene Wahrheiten, eben weil man nicht über die alltäglichen Bedrückungen der Leute reden will. Täte man es, so zeigte sich die Ähnlichkeit der Gefühle und Zwangssituationen, die Menschen damals wie heute zum Protest bringen.
Wie vor 15 Jahren sehen sich die ostdeutschen Protestler in einer aussichtslosen Lage: Während die Kinder weggehen, können die Älteren wenig für sich selbst tun. Damals wie heute drängte es die Leute nicht nur deswegen zum Protest, weil man sich davon politische Erfolgschancen versprach, sondern weil den jahrelangen Bedrückungen, Demütigung und Entwürdigung nur noch auf diese Weise produktiv umzugehen war. Auf dieser Ebene ist es völlig irrelevant, ob das Leid durch politische Setzungen in einer Diktatur oder Demokratie verursacht wurde. Die Kommentierung der Sozialproteste auf der abstrakten Demokratie-Diktatur-Ebene lenkt auf eine preiswerte und scheinplausible Art davon ab, was die Leute wirklich bedrückt und antreibt.
Mit seinen ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen braucht der Bürger vom Staat nur Freiheit und Rechtssicherheit - alles andere kann er aus eigener Kraft für sich tun. Die Lohnabhängigen - die im übrigen mit ihren Lohnsteuern den größten Anteil zur Finanzierung des Staates liefern - brauchen mehr von dem Staat: vor allem die Absicherung der Sozialrisiken und die Investitionen der öffentlichen Hand. Das war auch im 19. und 20. Jahrhundert so. Neu ist etwas anderes: Zum einen waren in der Vorzeit große Teile des Bürgertums von konservativen, christlichen und sozialethischen Ideen, von "Pflichtgefühl" und paternalistischem Verantwortungsgefühl inspiriert. Zum anderen gab es mit den starken und radikalen antibürgerlichen Parteien, Bewegungen und Staaten eine Gegenkraft und einen Gegenentwurf, die den sozialen Ausgleich in den bürgerlich regierten Ländern nahe legte. Nun ist die Lage nicht nur politisch anders - es ist auch ein mental anders orientiertes bürgerliches Milieu in der Politik und in den Medien an die Macht gekommen. Es ist selbstbezogener, individualisierter, hedonistischer und diesseitiger - weniger auf "den Staat" oder "das Volk", auf übergreifende Werte und Pflichtvorstellungen hin orientiert oder an ein "Lebenswerk" gebunden.
Dieses modernisierte Bürgertum des 21. Jahrhunderts blickt fasziniert auf die global zunehmenden Möglichkeiten auszuwählen, zu genießen und zu erleben. Ausgiebig und gerne sprechen diese Selbstverwirklicher von "der Freiheit". Sie selbst macht diese neue Freiheit frei von Verantwortung für die sozial Schwachen - und jene immer unfreier und unsouveräner. Das kaschiert man gerne mit den rhetorischen Figuren von der "Selbstverantwortung" und der "Eigeninitiative". Vor Monaten noch wurden die Arbeitslosen als initiativlos hingestellt, wenn sie das für Alleinverdiener unattraktive Angebot der Gründung einer Ich-AG nicht annahmen. Nun, da die Situation der Arbeitslosen mit Hartz IV noch schlimmer wird, wandelt sich die Ich-AG von einem als "Chance" herausgestrichenen arbeitsmarktpolitischen Instrument zu einem - wie es die FAZ nennt - "Schlupfloch", das demnächst "gestopft" würde. Hierzu passt die Anzeige des "Bürgerkonvents": Ein Mann tritt seinem Schatten in den Hintern und schickt ihm den Fluch "Fauler Sack" nach. Der so angesprochene Schatten könnte jene Arbeitslosen repräsentieren, die dem Tretenden für staatlich subventionierte Billiglöhne als "Putze", Gärtner oder Fensterputzer dienen und ihm so ermöglichen, in den gut bezahlten Jobs fit, schön und erfolgreich zu bleiben.
Die Schönen und Erfolgreichen und jene, die es werden wollen, sehen dann auch auf die Sozialproteste als ein prolliges und ästhetisch wenig zufrieden stellendes Event herab. "Große alte Gesten und Figuren beherrschen die Bühne des Protestes", heißt es in der Zeit. "Die deutsche Linke ist ängstlich, missgelaunt, defensiv - und nicht libertär, fantasievoll und chic." Offensichtlich meint man, dass "richtige" Revolten und Revolutionen aus Übermut, guter Laune und dem Bedürfnis, chic zu sein, entstehen. Es ist nicht überraschend, was hierzu als positives Gegenbild aufgerufen wird: Bei den Protesten von 1968 sei man noch "sehr neugierig auf die Gegenwart" gewesen. In der 68er Bewegung ging es tatsächlich in erster Linie nicht um die Verteilungsweise des materiellen gesellschaftlichen Reichtums. Man lebte in der längsten Prosperitätsphase des Jahrhunderts. In den sechziger Jahren schwankte die Arbeitslosigkeit durchschnittlich um die Ein-Prozent-Marke und die Wirtschaft wuchs stetig. Ganz andere Widersprüche drängten zu einer Lösung. Nicht Konflikte um den materiellen Reichtum, sondern um die mentale und ideologische Reformierung der Republik standen an. So wurde die verdienstvolle 68er Bewegung zum spektakulären Bestandteil eines Modernisierungsprozesses, der zu einer nachhaltigen mentalen, geistigen und politischen Demokratisierung des Landes führte. Heute haben die Angehörigen der 68er Generation vielerorts in Politik und Medien wichtige Positionen erreicht. Sie folgen einem universalisierten und verwässerten Nach-68er-Zeitgeist. Ihre ausgeprägte kulturelle Distanz zu den einfachen Lohnabhängigen und ihre mangelnde Affinität zur sozialen Frage gehen dabei eine destruktiv wirkende Mischung ein.
Die aktuellen sozialen und politischen Zusammenschlüsse und Protestbewegungen könnten allerdings mit einer neuen außerparlamentarischen Opposition an ein anderes Erbe der heute herrschenden Generation anknüpfen. Im heutigen Bundestag und in den Medien werden die Interessen und Sichtweisen von großen Bevölkerungsgruppen nicht mehr ausreichend repräsentiert. Die derzeit wichtigsten Parteien, die Union, die SPD und die Grünen, sind in sich zerrissen - eben weil sie sowohl für einfache Lohnabhängige, für Besserverdienende, für den Mittelstand und das Bürgertum da sein wollen. Daraus folgt eine handwerklich schlecht gemachte und unplausible Regierungs- und Oppositionspolitik.
Die Frage, ob sie von den fünf im Bundestag vertretenen Parteien enttäuscht seien, bejahen inzwischen 65 Prozent der Bürger, das ist bemerkenswert. Üblicherweise pendeln diese Missmutsbekundungen zwischen 30 und 50 Prozent. Die aktuelle Politik und deren Wahrnehmung durch die Bevölkerung ist ein klares Indiz dafür, dass das traditionelle Parteien-Modell der alten Bundesrepublik für die Berliner Republik nicht mehr taugt. Auf den Abbau der sozialstaatlich orientierten Konsensgesellschaft wird der Umbau des gegenwärtigen Parteiensystems folgen. Möglicherweise sind die neuen Montagsdemonstrationen wieder ein Initiator zur Beseitigung einer antiquierten, ineffizienten und rücksichtslosen Form des Regierens.
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