Der Vorgang ist schnell wiedergegeben, wird aber noch lange weiterwirken: Anfang Juli begründete der Vertreter einer Bürgerinitiative vor dem Landesparlament Sachsen-Anhalts einen Gesetzesentwurf. Das war möglich, weil die durch ihn repräsentierte Initiative mehr als eine Viertelmillion Unterschriften sammeln konnte. Gegenstand war, was lediglich das untere Drittel der Gesellschaft beschäftigt, nämlich dass auch Familien, in denen ein Elternteil oder beide Eltern arbeitslos sind, ein Anrecht auf Ganztagsbetreuung ihrer Kinder bekommen. Die Abgeordneten der in Sachsen-Anhalt regierenden CDU und FDP fanden, dass ein solches Anrecht nicht finanziert werden könne und sollte - das ist ihr Recht als demokratische Interessenvertreter und soll hier nicht weiter diskutiert werden.
Doch dass sie einen Mann aus dem Volk, der nach einem demokratisch geregelten Prozedere das Votum von 265.000 gültigen Stimmen erläutert, nicht wenigstens in den dafür vorgesehenen 15 Minuten anhören, sondern ihm stattdessen mit anhaltendem Gelächter und Zwischenrufen begegnen und ihre Missachtung durch laute Unterhaltungen ausdrücken, sollte schon diskutiert werden. Es offenbart schlaglichtartig den Zustand der deutschen Demokratie, das Verantwortungsbewusstsein der sogenannten politischen Elite oder den verdeckten Krieg gegen das untere Drittel der Bevölkerung.
Was wäre anders gewesen, wenn die Parlamentarier den Mann nicht ausgelacht, sondern ihn scheinbar ernst genommen hätten, um dann später zu erklären, dass die an sich gute Idee leider nicht finanzierbar sei? Es wäre - lediglich, so könnte man sagen - die Form gewahrt worden. Doch der Vorfall bedeutet mehr: Wenn Teilnehmer eines geregelten Verfahrens der Interessenvertretung und Konfliktverhandlung - und nichts anderes ist die Demokratie - damit aufhören, die Formen zu wahren, ist das ein Indikator für eine massive Veränderung in den Machtverhältnissen. Wer nicht mehr die Formen wahrt, drückt dem Prinzip, dem diese Formen Ausdruck verleihen - in diesem Falle der Demokratie - seine Geringschätzung aus. Regeln und Formen definieren, welche Waffen beim Austragen von Konflikten erlaubt sind. Sie engen damit die Kontrahenten ein, aber schützen sie auch. So lange ein annäherndes Kräftegleichgewicht herrscht, wird also niemand die Regeln verletzen. Erst wenn eine Seite so mächtig geworden ist, dass sie den Schutz der Regeln bei der Konfliktverhandlung nicht mehr benötigt, beginnt sie die Regeln zu verletzten und zu verändern. Bevor die geschriebenen Regeln angegriffen und verändert werden, verletzt man die ungeschriebenen Regeln, die Formen. Das ist die Bedeutung der Verhöhnung des Parlamentärs, den die Bürgerinitiative ins Parlament geschickt hatte.
Die informell bestehende Große Koalition der politischen Klasse Deutschlands fühlt sich so mächtig und unangreifbar, dass sie neue Regeln fürs Geldmachen und für die Verwaltung der Armut ausarbeitet. Sie muss nicht mehr fürchten, dass ihr irgendein Akteur auf der demokratischen Bühne ihre Sessel streitig machen könnte, in dem er - authentisch oder demagogisch - die Interessen des unteren Bevölkerungsdrittels vertritt. Das ist die Bedeutung des Gelächters von Magdeburg. Der Abbau von Demokratie ist jedoch für die Mächtigen immer nur auf kurze Sicht ungefährlich. Die Unteren suchen sich dann andere Wege, um ihre Interessen durchzusetzen.
Das Gelächter von Magdeburg verrät noch etwas anderes. Die höhnenden Parlamentarier missachteten mit ihrem Gelächter nicht nur den Bürgervertreter, sondern mit der Demokratie genau jenes Prinzip, aus dem sich das Recht der Abgeordneten herleitet, ihre besonderen politischen Rechte auszuüben und ihre öffentlich finanzierten Diäten zu verzehren. Offenbar meinen aber die lachenden Parlamentarier, dass sie aus anderen Gründen die Rechte und Privilegien der Parlamentarier-Position genießen - wahrscheinlich, wie im ancien régime, wegen persönlicher Höherwertigkeit und der besonderen Herkunft.
Vielleicht könnte der Erosion der deutschen Demokratie entgegengewirkt werden, wenn nicht nur die Sozialpolitik, sondern auch das Regelwerk des parlamentarischen Betriebs reformiert würde. Es gibt ja inzwischen nur noch wenige Jobs, bei denen individuelle Verantwortlichkeit und persönliches Risiko so gering sind wie bei dem des Parlamentariers. Die Abstrafung durch den Wähler wird nur für einige Hinterbänkler mit ungünstigen Listenplätzen zum Problem - die Abstrafung durch den Nichtwähler ist für die Parlamentarier nahezu irrelevant. Dass der Abgeordnete seinem Gewissen verantwortlich sei, ist heute, da sich das politische Spitzenpersonal nach der Bestätigung von Hartz IV mit dem Vorsatz, mal richtig "schlemmen" zu wollen, in die Sommerpause verabschiedet, auch nicht sehr hilfreich. Daher sollte über die Einführung eines Bußkataloges nachgedacht werden. Wie man Verkehrssündern für einige Zeit den Führerschein entzieht, sollte parlamentarischen Rowdys das Mandat entzogen und einem Nachrücker zur Verfügung gestellt werden. - Wer über den Souverän lacht, setzt eine Runde aus.
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