Die Folklore des Gedenkens

Kriegsende Eine neue Medienlandschaft revitalisiert alte Muster der Erinnerung

In den Monaten vor dem 60. Jahrestag der Befreiung Deutschlands von der Nazi-Herrschaft nahmen das Erinnern, das Gedenken und die Deutungen zum Jahr 1945 neue Dimensionen an - sowohl in der Breite aber auch in ihrer Gegensätzlichkeit. Neu ist, dass eine Folklore des Gedenkens, die die Deutschen vor allem als Opfer der Kriegsführung sieht, mehr an Raum gewinnt. In diesem Zusammenhang erlangen auch die tradierten Stereotype von den Russen und dem "bolschewistischen Terror" wieder an Bedeutung.

Dieser Wandel ist nicht durch eine geschichtspolitische Wende verursacht. Der offizielle Gedenk-Kanon einer Gesellschaft ist eher träge, ein ausgehandelter Kompromiss, der durch innen- und außenpolitische Kräfteverhältnisse bestimmt wird. Zwischen dieser Staatsräson und der Folklore des Erinnerns besteht fast immer eine Spannung, in der DDR war sie recht groß, aber in der demokratischen Bundesrepublik bestand sie auch. Denn obwohl das Land stark von der einstigen Trägerschicht des Nationalsozialismus geprägt war, blieb doch die Westanbindung und die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der "zivilisierten und demokratischen Nationen" stets Regierungspolitik.

Die heutige Folklore des Gedenkens rührt vor allem von einer veränderten Medienlandschaft her, dem Wirken von Wissenschaftlern, Journalisten und Künstlern aus der Nach-68-Generationen und dem veränderten ideologischen Klima nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Blocks. Die heutigen Medienformate und Rezeptionsmuster entsprechen den populären Formen des Erinnerns und Gedenkens viel besser als die früheren. Was vor Jahrzehnten noch am Stammtisch und bei Leichenfeiern, in der informellen Öffentlichkeit der Clubs und Verbände über den Krieg zu erfahren war, hört man heute in dutzenden Fernsehkanälen, die selbst immer mehr zu einer privatistischen, wenngleich massenhaft verbreiteten Öffentlichkeit werden.

Die Folklore des Gedenkens bezieht sich - scheinbar plausibel, letztlich aber nur egozentrisch - auf das eigene Erleben. Die eindrücklichsten und leidvollsten Erlebnisse sind die Flächenbombardements, Feuerstürme und die Massaker der Russen, die Traumata des Gefechts und der Gefangenschaft, die Flucht, der Verlust von Angehörigen und Heimat. Die politischen und geschichtlichen Kontexte werden - wie auch zu Friedenszeiten - kaum wahrgenommen, ebenso wenig die persönliche Vorgeschichte und die eigene Entscheidungen vor dem "Zusammenbruch". Diese populäre Art der Vergangenheitsbetrachtung entspringt dem verbreiteten Bedürfnis, das eigene Leid zu thematisieren und die Schuld für dieses Leid bei anderen zu suchen. Die schwer erträglichen Bilder und Nachrichten über das vorgängige Leid der Gegner haben hier keinen Platz.

Diese Folklore des Gedenkens wird im Jahr 2005 dadurch befördert, dass der Fokus des Gedenkens auf die ersten vier Monate des Jahres 1945 gerichtet wird, wie beispielsweise in der mehrteiligen Dokumentationen Sterben an der Ostfront oder 1945 - Schlachtfeld Deutschland, also auf jene Phase, in der die Deutschen massenhaft zu Opfern der Kriegsführung wurden. Eine Ausnahme im Fernseh-Gedenken stellt hier der Dreiteiler zur Geschichte der Gestapo dar. Er zeigt, wie Deutsche schon seit 1933 starben, weil die denunzierende Volksgemeinschaft und die Beamten so pflichtbewusst waren. Die hier benannten politisch und kulturell devianten Opfer eignen sich nicht zur Identifikation. Und über ihre Verhaftung und ihr einsames und qualvolles Sterben gibt es auch keine spektakulären Filmaufnahmen.


In den populären Darstellungen zum Gedenken an den 60. Jahrestag des Kriegsendes wird die Schlacht mit den Russen wieder neu geschlagen. Die Fernseh-Dokumentation Sterben an der Ostfront erklärt, warum die Russen - "nach all den Erfolgen in den frühen Jahren", wie sich ein ehemaliger deutscher Soldat an die Feldzüge der Wehrmacht erinnert, - doch noch siegten. Die Propaganda, so der Kommentar des Autors, hat den Hass auf alles Deutsche geschürt und die Kommissare haben die Soldaten "aufgeputscht". Zudem trieb sie noch die Angst vor der Geheimorganisation SMERSCH zum Kämpfen. Das "Sterben an der Ostfront" ist vor allem ein Sterben durch das Sowjetsystem und seine verrohten Geschöpfe: Deutsche Gefangene, sowjetische Selbstverstümmler, "Feiglinge" oder Stalin-Gegner, alle müssen sterben. Ein ehemaliger Hauptfeldwebel erklärt, "warum die deutschen Soldaten durchgehalten und sich immer wieder zum Kampf gestellt hatten: Es mussten Zivilisten zurückgebracht werden, dass die möglichst weit zurückkamen und nicht dem Russen in die Hände fallen". Dann spricht der Kommentator von der "größten Massenflucht der Geschichte".

Auch der Text-Bildband Die letzten 100 Tage des Zweiten Weltkrieges wendet sich an ein breiteres Publikum. Den Tagen vom 1. Februar bis 9. Mai 1945 widmet er jeweils eine gut illustrierte Doppelseite mit einfach zu lesenden Texten, die ausgewählte Problemfelder bis in die dreißiger Jahre hinein beleuchten. Wiederkehrend zitiert man Tagebücher: Neben dem eines KZ-Häftlings werden vor allem die Gedanken von deutschen Soldaten, Hausfrauen, einer Gefangenen und eines Flakhelfers ausgebreitet. Das Buch zeigt das Panorama des Kämpfens und Sterbens, der Verwundungen und Vergewaltigungen, der chaotischen Hinrichtungen und der systematischen Metzeleien unter den Häftlingen, eine wahre Apokalypse - nicht weniger, aber auch nicht mehr. So, als könnten allein das Zeigen der blutenden Wunden und die Schreie der gequälten Seelen den Zugang zu tieferer historischer Einsicht gewähren. Wie die Nazi-Diktatur etabliert wurde, welche Rolle dabei die politischen und wirtschaftlichen Eliten spielten, oder die Bevölkerung - die nun als Tagebuchschreiber die letzten Tage kommentiert - kommt nicht einmal zur Andeutung. Die Deutschen des Jahres 1945 erscheinen als von einer fremden und überreagierenden Diktatur und von den Eroberern gepeinigt. In beiden populären Darstellungen wird Geschichte durch erschütternde Geschichten ersetzt.


Zur scheinbar neutralen und wissenschaftlichen Einbindung der tradierten antikommunistischen und antirussischen Affekte der Deutschen dient die Totalitarismustheorie. Die Sowjetdiktatur, der Staatsozialismus in der DDR und die NS-Diktatur werden über die Form der Herrschaftsausübung parallelisiert. Zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus beschäftigt sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung gleich zweimal mit den Sowjets. Im Leitartikel von Thomas Schmid, der mit der Befreiung der in Auschwitz verbliebenen Häftlinge beginnt und über das Gedenken in einem erweiterten Europa reflektiert, taucht das "Sowjetreich" nur als das 1990 verschwundenen Gebilde auf, in dem sich das "das zweite europäische Großverbrechen des 20. Jahrhunderts" ereignet hat.

Auch im Aufmacher des Feuilletons ist an diesem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus der Weg vom Holocaust zum Stalinismus sehr kurz: Hier wird darüber informiert, dass in den nächsten acht Jahren die zehnbändige Quellenedition Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das Nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 erstellt werden soll. Dann spekuliert der Feuilletonist noch ein bisschen, was darin stehen könnte: "Und es mag sein, daß hier und da aus diesen Quellen etwas hervorspringt, was den anvisierten Zeitrahmen 1933 bis 1945 sprengt und den Blick auf die Vorgeschichte der Vernichtungspolitik lenkt" - nämlich die "bolschewistischen Massaker, verübt in Riga an baltendeutschen Geiseln im Frühjahr 1919" oder jene, die das NKWD an der polnischen Bevölkerung während des Rückzugs 1941 verübte.

So wird in der FAZ der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz nicht zum Anlass, den Anteil der Roten Armee an der Zerschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands zu würdigen, sondern an den "75. Geburtstag der Kulakenenteignung" und den "Massenmord an ihnen" zu erinnern. Auch Hubertus Knabe beschäftigt sich in einem neuen Buch mit der Deutung von 1945. Er zeigt das ganze Spektrum der schrecklichen Gewalttaten der Sowjets und der Polen an Deutschen. Sein Fazit zeigt sich im Buchtitel: Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland. Der 8. Mai 1945 könne nicht als Befreiung angesehen werden, weil der sowjetischen Besetzung die SED-Diktatur gefolgt sei und die Ostdeutschen sich nicht als befreit erlebt hätten. Einmal davon abgesehen, dass die Rede vom Tag der Befreiung nicht beansprucht, die Empfindungen der deutschen Volksgemeinschaft widerzuspiegeln, sondern geschichtspolitisch orientiert ist und normativ die politischen und moralischen Werte der deutschen Nachkriegsgesellschaften aufruft. Dieser Argumentation ist vor allem zu entgegen, dass sie die deutschen Opfer von 1945 für antitotalitäre Argumentationen von 2005 instrumentalisiert: Die unblutig abgetretene DDR-Diktatur wird ins apokalyptische Licht des NS-Terrors getaucht und der die blutige Praxis des Stalinismus wird genutzt, um den Anteil der Roten Armee an der Zerschlagung der Nazi-Herrschaft zu minimieren.


Die alten deutschen Stereotype zu den Russen wurden von der Nazi-Propaganda nicht erfunden, sie verdichtete sie nur zur Rede vom "slawischen Untermenschen" und von der "bolschewistischen Bedrohung". Bei der Westintegration der Bundesrepublik und der Aufarbeitung in den neunziger Jahren konnten sich diese Affekte erhalten. Vielleicht setzt sich im Gedenken des nächsten Jahrzehnts die Zurückdrängung der Russen aus der Position als Überwinder der Nazi-Herrschaft hin in den Status der Täter und Diktatur-Knechte fort. Dann wird man zum 75. Jubiläum des Siegs über die Nazis an ein "Zeitalter der Diktaturen und der Invasion Asiens in Europa" gedenken - und den Umstand, dass es nach 70 Jahren sowjetischer und 40 Jahren ostdeutscher und osteuropäischer Diktaturen ›auch einmal‹ zwölf Jahre nationalsozialistische Diktatur gegeben hat, für vernachlässigbar halten. Und vielleicht wird zum 75. Jahrestag des Kriegsendes dann schon in den Feuilletons als Überschrift stehen, womit heute noch TV Karstadt die Aufmerksamkeit der Leser erlangen will. Am 4. April kündigte man hier eine Dokumentation an mit "1945: Am 12. 1. 1945 greift die Rote Armee das ›Deutsche Reich‹ an."

Die letzten 100 Tage des Zweiten Weltkriegs. Von Christian Hartmann und Johannes Hürter. Droemer/Knaur. München 2005., 224 S., 18 EUR

Hubertus Knabe: Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland. Propyläen. Berlin 2005, 388 S., 24 EUR


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