Mitte Mai wurde die Expertise der ein Jahr zuvor eingesetzten Kommission von Historikern und ehemaligen DDR-Oppositionellen durch Kulturstaatsminister Neumann der Öffentlichkeit vorgestellt und simultan verschrottet. Die Studie empfahl eine inhaltliche und institutionelle Reformierung der DDR-Aufarbeitung. In der knappen Begründung des Ministers hallte das mediale Sperrfeuer wider, das bereits Tage zuvor gegen die - eigentlich unveröffentlichte - Expertise gerichtet worden war: Man dürfe "nicht zulassen" so resümierte der Minister, "dass sich die Täter zu Opfern stilisieren," und müsse "allen Tendenzen der Verklärung der ehemaligen DDR" entgegenwirken. Die Debatte im Vorfeld dieses Diktums ließ eine moralisch und geschichtspolitisch gewichtige Frage nur ungenügend beantwortet - die Frage nämlich, welche Bedeutung die Opfer des DDR-Repressionsapparates für die Historisierung der DDR aber auch für die politische Bildung haben können und sollten.
Opfern steht der Schutz der Gesellschaft zu. Auch wenn die DDR-Diktatur gestürzt wurde, auch wenn Gewalttäter verurteilt sind oder im Abseits stehen, können sich ihre Opfer nicht als "Sieger" fühlen, und in vielen Fällen sind sie immer noch schutzbedürftig. Das kennt man auch von unpolitischen Fällen und auch bei geringeren Übergriffen auf die Würde, Rechte und Gesundheit von Menschen, als jene, denen viele Stasi-Opfer ausgesetzt waren. Auch bei der "Aufarbeitung" oder "Entschädigung" des Unrechts sind die Opfer oft noch auf besonderen Beistand angewiesen, damit sie nicht abermals zum Verlierer werden.
Wie sich eine solche fortgesetzte Demütigung vollziehen kann, dokumentierte Christian Pross in seinem 1988 erschienen Buch Wiedergutmachung: Der Kleinkrieg gegen die Opfer. Er beschrieb, wie die einstigen hohen Beamten des NS-Staates die Segnungen der bald prosperierenden Nachkriegsgesellschaft genießen konnten, während die NS-Verfolgten, - vor allem wenn sie "kleine Leute" waren - schutzlos der abschätzigen Taxierung und mokanten Protokollierung ihrer Beschädigungen durch Ärzte und Amtspersonen ausgesetzt waren. In der Nachkriegszeit stand den Opfern des NS-Terrors, welche Mitgefühl für ihre Leiden, materielle Entschädigung und auch Anerkennung für ihren Widerstand einforderten, ein Bündnis der einstigen Fach- und Führungskräfte des Dritten Reiches und der Bevölkerungsmehrheit distanziert bis feindselig gegenüber.
Heute, nachdem in der friedlichen Revolution der Ostdeutschen die "Zweite Deutsche Diktatur" als erste deutsche Diktatur ohne einen Schuss kapituliert hatte, ist die Situation ganz anders. Die einstigen Fach- und Führungskräfte der DDR sind, außer in der Politik, in einem für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts beispiellosen Elitenaustausch abgewickelt und marginalisiert worden. Ihre Intensität bezog die Aufarbeitung des DDR-Unrechts daraus, dass die administrativen und geistigen Eliten, die sich dieser Aufgabe annahmen, in großer ideologischer und kultureller Distanz zum DDR-Personal standen. Im Übrigen kann und muss der größte Teil der heutigen Bevölkerung, also die Menschen in den alten Bundesländern, die Repression in der DDR mit ihrer Biographie nicht in Verbindung setzen. Die Berichte der Stasi-Opfer bringen sie mit ihren Lebensentscheidungen nicht in Verlegenheit, sondern bestätigen diese vielmehr. Zwar interessiert sich nicht jeder von ihnen gleichermaßen für die Stasi-Opfer, aber es gibt keinen Grund zur Abwehr ihrer Leidensgeschichte. Die Mehrheit der Deutschen - und die mediale Öffentlichkeit ohnehin - ist den DDR-Opfern also freundlich gesinnt. Das ist gut für die Opfer.
In den letzten Wochen zeigte sich abermals, dass sich viele ehemalige Stasi-Offiziere durch diese Öffentlichkeit pauschal an den Pranger gestellt sehen. Es ist auch wahr, dass vielen der Hauptamtlichen keine individuell zurechenbare Schuld anzulasten ist. Ihnen steht, sowohl rechtsstaatlich wie auch moralisch gesehen, das Recht zu, ihre Sicht auf die Dinge zur Diskussion zu stellen. Aber immer dann, wenn sie hierzu das Leid der Opfer ihrer Behörde in Frage stellen, sollte man ihnen kein Gehör mehr schenken. Denn angesichts der kraftstrotzenden, kalten Selbstgerechtigkeit dieser Leugner müssten sich die Opfer wieder als Verlierer fühlen, stünde ihnen die Gesellschaft nicht bei.
Während der Täter seine Strafe verbüßen, amnestiert werden und zumeist gut vergessen kann, fällt den Opfern eine solche Entfernung von der Tat viel schwerer und bleibt oft ein Leben lang verbaut. Für die Traumatisierten ist diese DDR immer noch nicht zu Ende: Töne und Bilder, eine Geruchsspur, eine Formulierung, können alarmieren, - mit "Historisierung", "Kontextualisierung" und "Differenzierung" ist man hier verständlicherweise an der falschen Adresse. Das können andere tun.
Wenn es also unfreundlich und unvernünftig ist, die Opfer der Repression mit den Normativen differenzierender Geschichtsschreibung zu behelligen - wie vernünftig ist es dann, nur aus der Sicht der Opfer die Normative der Geschichtsdiskussion und der politischen Bildung bestimmen zu lassen? Wie verhält sich das moralische Gebot, den Opfern Gehör zu schenken und sie vor der Uneinsichtigkeit der Täter zu schützen, zu den Standards einer professionalisierter Geschichtswissenschaft und zukunftsorientierten politischen Bildung?
Das in der DDR herrschende Bild vom Nationalsozialismus krankte auch daran, dass es unter Kuratel des NS-Opfers Honeckers und seiner Mithäftlinge stand. Es ist nachvollziehbar, dass diese Opfer die Darstellung ihres Leidens, die Schuld der Täter und schliesslich "ihres" Sieges über dieselben zum Kernpunkt der Überlieferung machen wollten - und in der Diktatur dann auch konnten. Die Konzentration auf den Widerstand und auf die Opfer des NS-Terrors hatte jedoch zwei für die DDR kontraproduktive Effekte. Erstens legitimierte die schlimme Vergangenheit immer wieder auch die Beschneidung von Freiheiten und Bürgerrechten. Zweitens beeinträchtige die Fixierung auf die traumatisierende Vergangenheit die Analysefähigkeit hinsichtlich der Gegenwart und Zukunft der DDR-Gesellschaft. Das zeigt die Vorstellung, dass diejenigen, die innerhalb und außerhalb der DDR gegen das Regime eingestellt oder tätig waren, "Faschisten" seien. Immer wieder deklamierten die misstrauischen Patriarchen der DDR "der Schoß ist fruchtbar noch ...", und schließlich etikettierten sie die Mauer als "antifaschistischen Schutzwall" - das war nicht nur Propaganda, sondern illustriert auch das Ausmaß der Selbsttäuschung und des Gefesseltseins an die Traumata der Vergangenheit.
Heute stellt Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, fest, dass "die Stasi 16 Jahre nach ihrer Auflösung alles andere als tot ist". Und Freya Klier, die sich mit einem Sondervotum gegen die Expertise der Kommission von Historikern und DDR-Oppositionellen wandte, konstatiert: "Die Stützen der untergegangenen Diktatur sitzen im Bundestag, in den Medien, in Schulen und vielfältigen Gremien unserer Demokratie. Und sie werden nicht müde, ihren Unrechtsstaat im Nachhinein demokratisch aufzupolieren und in der öffentlichen Erinnerung zu glätten." Die "Nomenklaturkader" hätten ihre "Netzwerke strategisch verfeinert" - "Sie zielen auf die Zukunft." Das klingt, als würde eine Akzentverschiebung in der DDR-Aufarbeitung fahrlässig die Demokratie aufs Spiel setzen.
Es ist eher umgekehrt: Die ausschließliche Schwerpunktsetzungen auf die Repression in der DDR verstellt den Blick auf künftige Gefährdungen der Demokratie. Klier definiert als "vorrangige Aufgabe der Übertragung von Geschichtswissen an unseren komplett reizüberfluteten Nachwuchs" die Klärung der Frage "was Menschen in Diktaturen einander anzutun vermögen." Doch Deutschlands Problem wird in den nächsten Jahrzehnten nicht das einer Diktatur sein, sondern die Aushöhlung der demokratischen Essenz in der Demokratie. Mit der Diktatur-Demokratie-Gegenüberstellung ist dieses Problem nur unzureichend abgebildet. Um aus der Geschichte von Diktaturen etwas über künftige Chancen und Gefahren der Demokratien zu lernen, ist die Konzentration auf den diktaturspezifischen Repressionsapparat, die Täter und die Opfer wenig geeignet. Viel instruktiver ist die Beschreibung jener durchschnittlichen Bevölkerungsmehrheit, die weder zu Tätern noch zu Opfern der Diktatur wurden. Erst die Summe ihrer Positionierungen, Kalküle, Wertvorstellungen, Identifikationen, deren Verweigerung von Empathie oder Bereitschaft zur Zivilcourage lässt Diktaturen funktionieren oder straucheln.
Die in den siebziger Jahren anwachsende Zahl der Ausreiseanträge, die Fluchtwelle und die friedliche Revolution von 1989 belegen, dass es von jener dritten Größe abhängt, wie lange die Täter wie viele Opfer finden. Über das Schicksal von Diktaturen wird außerhalb von Gefängnismauern entschieden. Deswegen gehört zur Erklärung der Geschichte der Täter und Opfer des DDR-Repressionsapparates auch die der Gesellschaft, der Kultur und des Alltags der DDR-Bevölkerung. Dass eine solche Gegenstandsbestimmung "staatlich geförderte Ostalgie" sein solle, ist mit Bedacht betriebener Alarmismus. Denn der gesellschaftsgeschichtliche Blick macht deutlich, was für die Durchschnittsbevölkerung die wesentlichen Dinge des Lebens sind. Und er zeigt, wie weit ganz normale Menschen als Behördenmitarbeiter, Chefs, Arbeitgeber und Bürger gehen und was sie tolerieren, - eben was Menschen einander anzutun vermögen -, wenn politischer, sozialer und wirtschaftlicher Druck die Weiterführung ihres gewohnten Lebens in Frage stellt. Diese Perspektive auf die Vergangenheit ist zur heutigen Gesellschaft anschlussfähig und erzeugt zukunfts- und demokratiebeförderndes Wissen, das an die junge Generation weitergeben werden sollte. Die Freiheit und Würde der heute Heranwachsenden wird nicht durch einen diktatorischen Staat bedroht sein, sondern durch einen ausgezehrten und desinteressierten Staat, welcher der Erosion des demokratischen und humanistischen Grundkonsens nicht wehrt.
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