Was ist das Gesicht Ostdeutschlands 14 Jahre nach dem großen Umbruch? Welches Bild bietet sich in den Metropolen und welches in der Provinz? Bislang sind viele Bilanzen zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik geschrieben worden. Bisweilen versuchten die Autoren dabei auch, die Tiefenstruktur des Vereinigungsprozesses in markanten Sprach-Bildern zu fassen und sie im Kampf der Theorien und politischen Überzeugungen in Stellung zu bringen.
Den Fotografen Moritz Bauer und Jo Wickert, beide Jahrgang 1968 und im Rheinland aufgewachsen, scheinen solche Ambitionen fremd zu sein. Sie finden schon die Oberflächenerscheinungen des Aufbaus Ost faszinierend. Im März 1991 brachen die beiden Fotografen zu ihrer ersten Foto-Exkursion in die neuen Länder im Osten auf. Sie reisten vo
reisten von Magdeburg, Schönebeck, Stendal nach Schwerin, zum Land an der Ostsee, nach Berlin, Frankfurt/Oder, Dresden, Halle, Schkopau und Dessau. Sie lichteten ab, was ihnen bemerkenswert erschien. Im Jahr 1996 suchten sie die selben Plätze wieder auf, stellten aber fest, dass sich weniger verändert hatte, als sie erwartet hatten. Möglicherweise war ihre Erwartungshaltung vom dem im Jahr 1996 noch wenig beschädigten Medien-Image des Aufbaus Ost beeinflusst, vor Ort bot sich ihnen offensichtlich doch ein anderes Bild.Die beiden Fotografen ließen dann noch weitere sieben Jahre ins Land gehen, bis sie erneut aufbrachen. Erst im März 2003, also nach etwa "4000 Tagen BRD in der ehemaligen DDR", schien ihnen dann eine instruktive Vorher-Nachher-Kontrastierung möglich. Das Buch präsentiert auf 200 Seiten 93 Bildpaare: Die linke Buchseite zeigt die Aufnahme von 1991, die rechte die von 2003. Der Standort, die Perspektive, ja sogar das Licht und die Witterungsverhältnisse beider Aufnahmen ist immer identisch. Dem Leser werden Ort, Straße und die GPS-Angaben mitgeteilt, sonst keine Kommentare. Freilich kann nur verglichen werden, was 1991 schon auffällig schien. Folglich gibt es keine Bilder von den Freiflächen, auf denen nach 1991 dann Eigenheimsiedlungen, Gewerbeparks und Autobahnen entstanden - jene typischen Symbole des Aufschwungs Ost in den 1990er Jahren.Das Ordnungsprinzip des Buches ist die Reiseroute der Autoren. Es finden sich Bild-Paarungen, die jede Jubelrede über den Aufbau-Ost illustrieren und DDR-Nostalgiker nachdenklich machen könnten: Neben den Ruinen oder den heruntergekommen Gebäuden von 1991 präsentieren die Fotos aus dem Jahre 2003 sanierte Ensembles, geschlossene Baulücken und moderne Gebäude. Wenn die City-Lagen von Magdeburg, Halle, Dresden abgelichtet wurden, zeigte sich fast immer diese Konstellation. Hier vermitteln die Doppelfotos einen Eindruck davon, wo und wie Ostdeutschland in einer Dekade verändert wurde - in den Zentren der Zentren und ihren neu entstandenen Speckgürteln. Die belebende Kraft des Geldes ging aber schon wenige Straßen weiter an den Häusern vorbei, beispielsweise an der verlotterten Martinstraße Nr. 18 und 20 in Magdeburg. Im Jahr 1991 war noch eine Wohnung vermietet, nun wohnt hier überhaupt niemand mehr. Das vor dem Haus gestrandete Skoda-Wrack von 1991 ist einem parkenden Mazda-Kleinwagen gewichen. Zumindest für Parkplatzsuchende ist der Leerstand ein Fortschritt.Auch andere für die Dekade typische Entwicklungen zeigen sich in starken Bildern. Im Foto von 1991, das die Stendaler Fabrikstraße zeigt, sieht der Betrachter Hunderte Fahrräder entlang der Backsteinfassade eines Industriebaus aufgereiht. Im Jahr 2003 ist die Straße völlig leer. Wohin gingen die Menschen? Ein anderes Bild vom deindustrialisierten Osten sieht man in Schkopau. Im Bild von 1991 umrahmt das riesige, von verklinkerten Säulen getragene Werktor noch das Gewirr von Rohren und Reaktionszylindern eines Chemiebetriebes, im Foto des Jahres 2003 umrahmt es nur noch das bis zum Horizont reichende Nichts. Auch vor den Werktoren, wo die ehemaligen "Werktätigen" des Ostens wohnen, ist es leerer geworden: Vor dem Plattenbau in Schönebeck war 1991 noch ein belebter großer Spielplatz, 2003 ist dort ein Parkplatz.Recht gegensätzlich zeigt sich auch Dessau. Nichts hat sich am Bauhaus geändert, hier hatte schon die DDR ihr Erbeverständnis durch die Sanierung des Ensembles dokumentiert. Zur gleichen Zeit verfielen Gebäude aus einem anderen historischen Kontext: In der Bildpaarung zum Schlossplatz zeigt das Bild von 1991 eine Ruine mit zugemauerten Fenstern - das Bild von 2003 ein saniertes Renaissanceschlößchen. Wenige Straßen weiter jedoch ist es fast umgekehrt. Für das Jahr 1991 sieht man noch, wie ein Haus mit seinen Fenstern und Leuchtreklamen die Nacht in der Dessauer Johannisstraße erhellt. Ein großer, im Stil der sechziger Jahre gefertigter Balken mit Leuchtbuchstaben verrät, welche Funktion das Gebäude vor 1990 hatte - "Palasttheater" -, eine zweite Leuchtreklame über dem Eingang, was nach der Privatisierung versucht wurde: "Billard-Cafe". Im Jahr 2003 ist alles dunkel, verschlossen und mit Plakaten und Graffitis übersät. Erst verschwand ein Politikverständnis, demgemäss Theater subventioniert wurden, dann gingen jene Gruppen, die sich in Billard-Cafes vergnügt hatten in die Arbeitslosigkeit oder in den Westen.Beim Durchblättern des Buches gewinnt man den Eindruck, dass das hier in Fotos porträtierte Land allmählich zu Ruhe kommt und ein neuer stabiler Status quo erreicht wurde: Der Staat hat sein kulturelles Erbe saniert und die Investoren haben angepackt, was der Kapitalvermehrung dienlich schien. Das war´s. Der Rest ist übrig geblieben. Da nicht die Erwägungen einer politischen gesteuerten "Landschaftspflege" sondern nur private Investitionskalküle die Entwicklung prägen, trocknen im Osten weite Landstriche aus, während sich die marktwirtschaftliche Zivilisation auf wenige "Kernbereiche" zurückzieht. Die Abwanderung der jungen Erwachsenen und künftigen Eltern treibt die Spirale zusätzlich an und macht den Osten für Investitionen noch unattraktiver. So stehen also strahlende Zentren des Geldverdienens mit imposanten Neubauten und sanierter historischer Altbausubstanz inmitten weiter Flächen, in denen der Verfall der niedergehenden DDR sich über die Vereinigung hinweg fortsetzt. Die verursachende Logik dieses Verfalls ist grundverschieden, der Effekt aber der gleiche, wie beispielsweise eine Fassade am Stendaler Südwestwall zeigt. Nachdem sie die Schwerfälligkeit und den Mangel in der Planwirtschaft erdulden mussten, leiden die Gebäude nun daran, dass sie keine profitablen Investitionsobjekte mehr sind - und es nach allem, was man prognostizieren kann, auch nie mehr sein werden. Hier nutzte die Zeit zwischen 1991 und 2003 nur noch dem Baum vor dem Hause: Eine gute Gegend für Bäume. Vielleicht wird die Losung von den blühenden Landschaften auf diese Art doch die Zukunft des Osten beschreiben. Es wäre interessant zu sehen, welche Fotos hiervon in zehn Jahren zu machen sind.Moritz Bauer / Jo Wickert: Vorwärts immer, rückwärts nimmer. 4000 Tage BRD. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2004, 60 farbige und 126 s/w Abb., 200 S., 14,90 EUR
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