Bei den am 20. Februar anstehenden Wahlen in Schleswig-Holstein rechnet man inzwischen damit, dass die NPD mit einem ähnlichen Ergebnis wie in Sachsen abschneidet. Man fragt sich, warum Hunderttausende nicht einfach nur - wie jeder zweite oder dritte Wähler - dem Votum fern bleiben, sondern sich aufmachen, NPD zu wählen.
Eine Wählerschaft für rechtspopulistische bis hin zu rechtsextremen - also gewaltbereiten, dezidiert demokratiefeindlichen - Parteien gibt es überall in Europa. Die Präferenzen rechtsfundamentalistischer Optionen sind verbreitete Reaktionen auf das Gefühl, wirtschaftlich an den Rand gedrängt zu werden wie auch auf einen als bedrohlich wahrgenommenen kulturellen Wandel. Rechtspopulismus und -extremismus zeigen sich in Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus. Beide bedienen die Sehnsucht nach machtvoller Durchsetzung der eigenen "höherwertigen" Ideale und den naiven Glauben an einfache und "ein für alle Mal" gültige Lösungen. Das ähnelt stark religiösen Fundamentalismen in unterschiedlichsten Glaubensrichtungen. Die Orientierung an rechtem Gedankengut entspricht letztlich dem Wunsch, in erlösender Weise jene Konflikte still zu legen, in denen man stets den Kürzeren zieht oder zu ziehen meint. Das bedrängte Ich kompensiert die im "normalen" Alltag erlebten Niederlagen und richtet sich an der Phantasie auf, es bestehe eine Überlegenheit der eigenen Volksgruppe.
Natürlich gibt es hierbei keine ökonomistischen Automatismen: Es sind keinesfalls immer die Arbeitslosen und Armen, die rechtsextrem wählen. Inspiratoren und Förderer der rechtsextremen Bewegung sind keine Outlaws, sondern kommen aus der bürgerlichen Mittelschicht. Und wenn es gewinnbringend erscheint, spielen konservative Politiker die rechtspopulistische Karte.
Im heutigen Deutschland wäre es im Übrigen gefährlich und wirklichkeitsfremd, die Debatte über Rechtsextremismus bei einer hochnäsigen Seelenkunde über "sozial und kulturell Benachteiligte" zu belassen, weil die NPD-Aktivisten nicht machtlos sind. Sie beherrschen sowohl die SA-Überfall-Taktik gegen Gegendemonstranten und antifaschistische Strukturen wie auch den Umgang mit modernen Kommunikationsmedien. Und die Rekrutierungsbasis hierzu ist nicht eben schmal. Eine aktuelle Studie sieht bei 23 Prozent der jungen Thüringer rechtsextreme Einstellungen. Bei elf Prozent der Jungwähler erwartet man ein rechtsextremes Votum zur Schleswig-Holstein-Wahl. Wirklichkeitsfremd wäre eine psychologisierende Debatte auch deshalb, weil sie das Ausmaß der realen Bedrückung und zum Teil auch Verarmung eines erheblichen Teils der Bevölkerung ignoriert - die Zwangslage jener Leute, die manche Eliten in Politik und Medien als immobile Faulenzer darstellen, die durch gestrichene Sozialleistungen "aktiviert" werden müssten. Viele sind nun "aktiv". Sie sehen sich als Kämpfer für "Wahrheit", "Gerechtigkeit", "Ehre" und gegen das "verrottete System" und sie "kämpfen", indem sie andere einschüchtern und physisch verletzen. Natürlich gehören nicht die Entscheider, Sonntagsredner und konformen Funktionsträger zu denen, die dabei in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Folgen ihrer Politik werden - wie immer - von anderen und woanders ausgebadet.
Wir stecken in einer die Demokratie bedrohenden Abwärtsspirale, in der sich zwei Prozesse gegenseitig verstärken: Zum einen die sich stetig verschlechternden Chancen für Arbeitnehmer und den unteren Mittelstand, sich durch Fleiß und Durchhaltewillen eine wirtschaftliche Existenz und lebenswerte Perspektive zu bewahren - und die Gefahr, im Falle des Strauchelns sozial endgültig abzustürzen, da sozialstaatliche Solidarität erheblich beschnitten wurde. Der zweite Prozess, der die Effekte des ersten verstärkt, resultiert aus den Einsparungen bei Kultur und Bildung. Kultur ist jene Ressource, mit der die beschriebenen ökonomischen Härten und sozialen Spaltungen für eine gewisse Zeit kompensiert werden können. Gefühle der Ohnmacht, Wut und Gewalt sind - wenn sie massenhaft auftreten - keine individualpsychologisch abzuhandelnden Phänomene, sondern viel mehr als kulturlose Belastungs-Reaktionen zu sehen. Denn der zivilgesellschaftliche Umgang mit Konflikten muss gelernt und gelehrt werden. Das ist jedoch nicht individualisiert in Kleinfamilien zu bewältigen, in denen sich die Eltern einem deregulierten Arbeitsmarkt zu stellen haben. Soziale Kompetenzen - Kommunikationsfähigkeit, Sensibilität und Konfliktfähigkeit - entstehen nicht von selbst vor dem Fernseher, dem PC und der Spielkonsole. Aber einem Umdenken steht immer noch die konservative, vor allem westdeutsche Distanz gegenüber gemeinschaftlicher Bildung und Erziehung im Wege - und natürlich die Rede vom fehlenden Geld.
Das in eine solche Kultivierung investierte Geld ist kein Luxus, sondern dient dem Bestandsschutz der offenen Gesellschaft. Doch offenbar ist man immer noch der Meinung, dass die Etablierung des informellen und mentalen Unterbaus, also jener Traditionen, Routinen, Erfahrungen und Qualifikationen, die eine Demokratie erst funktionieren lassen, ein einmaliger Akt und somit erledigt ist. Ein verhängnisvoller Irrtum. Jede Generation beginnt in gewisser Weise wieder von Null. Die Bewahrung der soziokulturellen Substanz einer Demokratie gleicht der Erhaltung von Deichen. Auch hier gilt: Sind die Deiche erst einmal verkommen, wird es nicht nur teuer, sondern gefährlich.
Die Erfolge der NPD zeigen, dass man sich am "Standort Deutschland" Gedanken machen muss, wie mit den Realitäten einer globalisierten postindustriellen Welt umzugehen ist. Sicher könnte "die Wirtschaft" gut damit leben, wenn die geforderte Senkung der Steuern und Abgaben mit der Absenkung demokratischer Standards einhergehen und eine rudimentäre Demokratie - wie in vielen anderen Ländern auch - etabliert würde. Aber die Wirtschaft ist nur Teil des Gemeinwesens. Wirtschaftliche Akteure dienen vorrangig nicht dem Gemeinwohl, sondern verfolgen private, also Sonderinteressen. Zwar sind sie darauf angewiesen, auf die Ressourcen der Allgemeinheit - auf Infrastruktur oder gut ausgebildetes Personal - zurückzugreifen, um daraus private Gewinne zu schlagen. Aber es schmälert den Gewinn, je mehr man selbst über Steuern zur Finanzierung der Allgemeinheit herangezogen wird. Zudem ist es für Firmen, die mit großem und mobilem Kapital arbeiten, betriebswirtschaftlich rational, die Wiese schneller als der Konkurrent abzuweiden und dann den verödeten Platz zu verlassen. Und es gibt keine wirtschaftlichen Mechanismen, die eine solche "Überweidung" - die Auszehrung von Gemeinwesen - verhindern würde - nur außerwirtschaftliche, sprich: politische. Wenn Politiker heute immer mehr den "Ratschlägen" der Arbeitgeber-Lobbyisten folgen, verraten sie die Funktion, im Allgemeininteresse zu wirken. Auch die Empfehlungen der "Wirtschafts-Weisen" reflektieren nur eine Teil-Logik des Gemeinwesens, sie können nicht das Setzen und Aushandeln von gesellschaftlichen Werten ersetzen. Eine Politik aber, die sich vornehmlich an den Interessen der Wirtschaft orientiert, höhlt die Zivilgesellschaft und die Demokratie von oben aus. Denn für die Wirtschaft gibt es stets wichtigere Werte als die Demokratie. Und die ausgezehrte Demokratie wird von Rechtsextremen befallen. Landtagswahl für Landtagswahl müssen nun die Effekte einer verfehlten Kultur- und Sozialpolitik beobachtet werden.
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