Über die Heide geht still der Wind. In dem Dörfchen Zschornewitz, irgendwo ostwärts von Bitterfeld, Wolfen und Dessau, leben 250 Menschen von der Land- und Forstwirtschaft. Dann, innerhalb von nur neun Monaten wächst vor ihnen das größte und modernste Braunkohlekraftwerk der Welt mit 21 Kühltürmen und 15 Schornsteinen in den Himmel, die Essen sind einhundert Meter hoch. Man schreibt das Jahr 1915. Da wurde die Welt von Zschornewitz neu geschaffen, von nun an bekam Zschornewitz vom Kraftwerk die Wolken, den Regen und eine sich verzwanzigfachende Bevölkerung. 1992 wurde die gerade erschaffene Welt mit einem Male abgeschaltet. Der Himmel über Zschornewitz ist wieder blau, und die Menschen sind arbeitslos.
Zschornewitz ist nur ein Beispiel. Das
piel. Das Städtchen Hoyerswerda verzehnfachte seine Bevölkerung seit 1955, als dort die "Schwarze Pumpe", das modernste Braunkohleveredelungswerk Europas entstand. Indem Schwedt in den Jahren nach 1959 die Erdölstadt Ostdeutschlands wurde, verzwölffachte sich seine Bevölkerung. Seit 1990, als die ostdeutsche Industrie notgeschlachtet und filetiert wurde, verlor die Stadt wieder ein Drittel ihrer Bevölkerung. Das Kommen und Gehen der Industrie gab es in kapitalistischen wie in sozialistischen Zeiten. Die Systemdifferenz zeigt sich darin, wie die Kosten des Strukturwandels auf die überflüssigen Arbeiter abgewälzt werden. Wenn heute die Industrie abgezogen wird, sind Hunderttausende der individuellen Anpassung überlassen, verwandeln sich in Zwangsmigranten oder Arbeitslose mit Phantomschmerz. Denn Industrie in uns verschwindet nicht so schnell wie die Industrie um uns (Oskar Negt). In Ostdeutschland verstärkten sich in den letzten Jahren zwei Prozesse: Der internationale Strukturwandel in eine postindustrielle Gesellschaft, der oft, wie beispielsweise seit Jahrzehnten im Ruhrgebiet, planend und subventionierend abgefedert wird. Zum anderen der besondere ostdeutsche Strukturzusammenbruch hin zu einer den Kräften des Marktes überlassenen deindustrialisierten Gesellschaft.Zwei Sammelbände thematisieren Vergangenheit und mögliche Zukünfte des Ostens. Der erste Band, Das neue Deutschland, versammelt Sozialreportagen und Analysen von Journalisten und Sozialwissenschaftlern (unter anderem die Zschornewitz-Reportage von Tobias Dürr). Der zweite Band, Labor Ostdeutschland, ein Projekt der Kulturstiftung des Bundes, ist kultursoziologisch akzentuiert. Er diskutiert den Abbruch der Arbeitsgesellschaft, die Abwanderung und die schrumpfenden Städte als kulturelles Problem und fragt nach Aufgaben und Handlungsspielräumen der ostdeutschen Kulturschaffenden. In beiden Bänden finden sich mehrere Aufsätze, die ein wichtiges Spezifikum Ostdeutschlands als eine in den fünfziger Jahren rapide industrialisierte und in den neunziger Jahren schlagartig deindustrialisierte Kulturlandschaft thematisieren.Manche Texte im Band Das neue Deutschland sind gerade deswegen interessant, weil sie über die Vorgänge in den neunziger Jahren hinausgehen und diese in das langwellige Auf- und Ab der Regionen einordnen. Mal lagen die goldenen Jahre einer Region in der DDR, mal lagen sie davor. Die goldene Zeit des einstigen mecklenburgischen Tagelöhnerkaffs Mestlin beispielsweise, dessen Geschichte Tanja Busse skizziert, begann nach 1953 als Schulen, Geschäfte, Gaststätten, Wohnungen, ein Ambulatorium und ein beeindruckendes, jährlich 50.000 Besucher empfangendes Kulturhaus gebaut wurden. "Wo jetzt die Sperrholzwand ist", so erläutert man heute den verfallenden Bau, "war früher ein wahnsinnig herrliches Foyer mit einer breiten Treppe, und wenn da bei Hochzeiten das Brautpaar runter kam mit einem schönen Schleier da hinten dran, das war ne Wucht, ne. Also wenn Sie sich diese Wände da wegdenken, das war schon was! ... Fast alle sind hier aufgetreten, Elektra, Karat und wie sie alle hießen. Hier pulsierte das Leben!"Heute liegt die Zukunft der Mestliner im Westen, die Vergangenheit erwärmt nur noch die Alten. Die goldene Zeit von Freital hingegen liegt noch länger zurück. Die drei mit absoluter sozialdemokratischer Mehrheit regierten Industriedörfer Döhlen, Deuben und Postschappel im Umland von Dresden schlossen sich 1921 zu einer Stadt zusammen, die frei von Ausbeutung und Unterdrückung sein sollte, Freital eben. Die Stadt tat sich mit expansivem Wohnungsbau und Sozialpolitik hervor, holte sich "eine Gruppe frisch approbierter, links orientierter Ärzte" und stellte - was damals unüblich war - "einen ganzen Stab verbeamteter Ärzte und Hebammen, Fürsorger und Betreuerinnen ein. Alles im Heil-, Fürsorge- und Wohlfahrtswesen war kommunalisiert und kostenfrei." So wurde Freital, wie Franz Walter und Michael Schlieben schreiben, zu einer "Oase für die Verlorenen und Gestrandeten der Gesellschaft, für Arbeitslose und für ledige Mütter, für Kleinrentner und vor allem für Kranke." Freital war eine Stadt ohne politische Gewalt mit einer verantwortungsbewussten kommunalen Elite aus gemäßigten kooperationsfähigen Reformisten. Im Herbst 1946 wählten noch zwei Drittel der Freitaler die SED, doch als 1990 die neue Freitaler Sozialdemokratie ihren Wahlkampfstand aufbaute, wurden sie als "rote Schweine" angepöbelt. Der Kredit der sozialistischen Idee war dahin. Doch der Abstieg der Stadt sollte nun erst richtig beginnen.Aus dem "Tal der Arbeit" wurde das "Tal der Arbeitslosen", geplagt vom täglichen Stau des Durchgangsverkehrs in der Dresdner Straße. "Zu DDR-Zeiten haben sie uns hier die Bude eingerannt", sagt die Inhaberin des Modeladens, die ihr Geschäft in wenigen Wochen aufgeben wird. Ganze Häuserblocks sind verwaist, zahllose Schaufenster leer. "Heute ist Freital ganz und gar enthistorisiert und dereguliert, die Einwohnerschaft individualisiert ... Freital hat mit dem Verlust der Geschichte, der Tradition, der Gründungsmission seinen Integrationskern verloren, der seine Einwohner zur Bürgerschaft verknüpfte ... Die Freitaler von heute fühlen sich nicht mehr als Freitaler, sondern wieder als Postschappler, Deubener und Döhlener." Bemerkenswert sind auch andere Aufsätze. Toralf Staud zeigt, dass Verhalten, Selbstwahrnehmung wie auch Stigmatisierung der Ostdeutschen im vereinigten Deutschland in frappierender Weise dem ähneln, was in der internationalen sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung zu Selbst- und Fremdbildern von Einwanderern dokumentiert ist. Die erste Einwanderer-Generationen sei stets "separatistisch", die zweite "relativ assimiliert", die dritte Generation in Bezug auf die kulturellen Wurzeln "reaffirmativ": "Was der Sohn zu vergessen versucht, wünscht der Enkel zu erinnern." Den Assimilationsdrang der zweiten Generation legt auch Alexander Cammann in erfrischender Weise in seinem Überblick auf die neue "ostdeutsche Integrationsliteratur" frei.Labor Ostdeutschland, beschäftigt sich im Buchschwerpunkt "Szenario Schrumpfstadt" auch mit der Deindustrialisierung. In Hoyerswerda, so rechnet Simone Hain vor, sind die Kläranlagen, das Fernwärme- und Nahverkehrssystem, die Kliniken, die Kultureinrichtungen, der Tierpark, die Grünanlagen und die städtische Verwaltung auf 70.000 Menschen (1989) ausgelegt. Schrumpft die Stadt in die Richtung des bei einem Zehntel liegenden Vorkriegsniveaus, verliert die Infrastruktur nicht nur ihre Wirtschaftlichkeit, sondern auch ihre technische Funktionsfähigkeit. Jene Menschen, denen die Mittel fehlen, die von Leerstand und Abrissnarben gezeichnete Stadt zu verlassen, oder jene, die Eigentum bilden konnten und deswegen bleiben wollen, sollen dann zwangsweise "mobilisiert" werden: Ein nach der Bekanntwerdung revidiertes Absiedelungsszenario von Hoyerswerda sah "die schrittweise Aufhebung aller Grundrechte für die nach 2006 noch in der Stadt verbliebenen Einwohner" vor. Hain beschreibt die wirkliche Neustadt Hoyerswerda - in Abgrenzung zu der oft als dessen Abbild missverstandenen fiktionalen Neustadt in Brigitte Reimanns Roman Franziska Linkerhand - als eine moderne, locker gegliederte und in viel Grün eingebettete Stadt mit mitteldichten Stockwerksbauten.Es war eine "Stadt ohne Zäune, die auch die Kinder liebten", ein Konzept, dass damals "international als Stein der Weisen" galt. Als "echte Utopie" (Ernst Bloch) habe die Stadt seit den sechziger Jahren junge Künstler aus der gesamten Republik angezogen und eine lebendige literarische und musikalische, zum Teil avantgardistische, Szene beheimatet. Auch die Jugend verfügte Ende der achtziger Jahre "über ein vitales Netzwerk von 15 Jugendklubs stark subkultureller Prägung, die, von der Stadt reichlichst alimentiert, ein absolut rathausfernes, autonomes Eigenleben entfalteten." Nach dem Beitritt machten reihenhaussozialisierte Westjournalisten Form und Geist dieser Stadt als "steingewordenen Reißbrett-Traum sozialistischer Kaninchenzüchter" nieder und sprachen von einer "Strafkolonie mit einem bösartigen häßlichen, dumpfen Alltag, der bösartige, häßliche dumpfe Menschen stanzt". Wolfgang Kil erzählt, dass im Jahr 1992 eine Bonner Architektengemeinschaft eine Dependance in Hoyerswerda eröffnete und ein Architekt jeden Montag vom Rhein in die Lausitz und Freitagnachmittag wieder zurück fuhr. Über die Einheimischen war er nur dürftig informiert, dafür hatte er einen guten Draht zum Bürgermeister, der auch aus dem Rheinland stammte. So kam es, dass "über zehn Jahre hinweg sämtliche Planungen für die Stadt ausnahmslos über seinen Tisch gingen." Der Reisearchitekt hatte eine Aversion gegen Hochhäuser und wollte die offene, gegliederte Planstadt aus den sechziger Jahren in eine "traditionelle europäische Stadt" verwandeln.Die ersten Abrisse trafen dann auch die zwei dominanten Elfgeschosser am Lausitzer Platz. "Diese Amputation der Stadtkrone", schreibt Kil, war ein "Signal an die Bewohner", das fataler nicht sein konnte. Es läutet letztlich auch die Desintegration und Vertreibung der wieder einmal überflüssig gewordenen nichtbürgerlichen Schichten, der Arbeitslosen und der Ausländer ein. Einst, in der Weimarer Republik, hat es die kleinbürgerliche Stadtverwaltung immer wieder verstanden, sich anbietende industrielle Entwicklung von der Stadt fernzuhalten, weil der Zuzug von Arbeitermassen die deutschnationale Mehrheit in der Stadtverwaltung gefährdet hätte. Die Urbanisierungsoffensive zu DDR-Zeiten sollte dieses Milieu aufbrechen. "Vierzig Jahre später", so resümiert Simone Hain, "arbeitet sich ein Teil der Elite der Stadt anscheinend noch immer an dem durch die arbeiterliche Invasion ausgelösten Traumata des Statusverlustes ab. Es sind die Altstadtkinder, die Ärztesöhne und Kaufmannskinder, die heute Hoyerswerda mit ihren frühkindlich eingeprägten und im wiedervereinten Deutschland schließlich postmodern aufgeladenen Aversionen gegen Hochhäuser und "Platte" regieren. Sie haben - unbeabsichtigt, will man hoffen - mit dem Abriss-Rollback am Elsterbogen begonnen, die Stadt für kleinbürgerliche Bauwünsche zu öffnen, um damit ... der arbeiterlich geprägten Neustadt entgegenzutreten." Die Aufsätze zum "Szenario Schrumpfstadt" zeigen, dass das Abriss-Rollback des Ostens nicht nur ideologieneutralen westdeutschen Wirtschaftsinteressen folgt, sondern ein Effekt kulturellen Kampfes gegen die nichtbürgerliche Moderne im Osten ist, mit der der Westen und seine Aufbauhelfer offensichtlich nichts anfangen konnten.Das Versagen der gewohnten Sozialtechniken beim "Aufschwung Ost" wird seit Jahren durch einen Diskurs kompensiert, der die Schuld "den Ostdeutschen" oder ihrer "DDR-Mentalität" zuschreibt. Ausdauernd wirft man ihnen mangelnde Modernisiertheit, Immobilität und fehlende Flexibilität vor, so als erarbeite die Bevölkerung in den funktionierenden West-Regionen ihre Existenzgrundlage für gewöhnlich in Spanien oder Norwegen. Die "mobilen" Ostdeutschen werden als die Vorbildlichen und Starken, die Sesshaften als die Zurückgebliebenen und Versager gekennzeichnet - so als würde Abwanderung die Probleme lösen, vor denen abgewandert wird. Und wenn die Bleibenden von der sozialen Verantwortung der Politik, von sozialer Gerechtigkeit sprechen oder die amtliche und mediale Schikanierung der Arbeitslosen kritisieren, werden sie als "konservativ" und "nostalgisch" etikettiert. Leider gibt es in Labor Ostdeutschland keinen Aufsatz, der sich systematisch mit der stereotypen Konstruktion Ostdeutschlands und der Ostdeutschen durch die politischen, medialen und wissenschaftlichen Diskurse beschäftigt. Doch erst diese Diskurse liefern den Rahmen, in dem die einzelnen Situationen gedeutet und diskutiert werden können. Diese konformistischen und wenig innovativen Diskurse ermöglichen oder verstellen diese oder eben jene Perspektive auf die Vorgänge im Osten, sie prägen die Selbstdeutungen der Betroffenen und letztlich auch die und Umgangsweisen mit der Situation.Die Vollbeschäftigung kann den Ostdeutschen niemand mehr zurückbringen, aber neue Lebensperspektiven und Selbstdeutungen, neue Wert- und Sinnvorstellungen schon. Diese Moderationsleistung wäre die spezifische Aufgabe der ostdeutschen Kulturszene, ihrer Künstler und Autoren. Wolfgang Kil schlägt neue Leitbilder vor. "Entschleunigung und Verkleinerung" dürften nicht mehr weiter als Regression, sondern auch als ein Zugewinn von Zeit, Selbstbestimmtheit und Selbstorganisation verstanden werden. Die unausweichlichen städtischen Schrumpfungsprozesse könnten durch die Bevölkerung nur durch deutlich mehr Partizipation und Kommunikation, auch durch Abschieds-Spektakel und - Rituale angeeignet und angenommen werden. Doch auch bei der Kulturszene spart die Politik. In den vergangenen fünf Jahren, so Michael Söndermann, hat sich die Zahl der von der öffentlichen Hand finanzierten Kulturarbeiter in Ostdeutschland um ein Viertel verringert, während sich die der "selbstständigen" Kulturschaffenden mehr als verdoppelte. Wie es Letzteren geht, illustriert der Aufsatz ArbeitslosenOper. Er zeigt, wie Ignoranz und Schematismus der Arbeitsämter arbeitslose Wissenschaftler, Künstler und Kulturschaffende in Schulungen zum richtigen Verfassen eines Lebenslaufes zwingen und so niemandem, außer dem Bedürfnis des eigenen Amtes zu dienen, während die Betroffenen daran gehindert werden, Arbeit zu finden oder etwas Sinnvolles für sich, ihr soziales Umfeld und ihre Region zu tun. Das unwiderrufliche - und im Osten zu dem schlagartig eingetretene - Ende der Vollbeschäftigtengesellschaft kann jedoch auf Dauer nicht durch staatliches Arbeitslosen-Mobbing geleugnet, verdrängt oder gar bewältigt werden. Für die Fata Morgana einer Industrieansiedlung ließ das Land Brandenburg allein im Jahr 2002 und allein für die Projekte Lausitz Ring, Cargo-Lifter und die Chip-Fabrik Frankfurt/Oder 671,5 Millionen Euro ein- und in den Sand setzen. Wäre es nicht ehrlicher und effektiver, fragt Wolfgang Kil, diese Summen zur "Direktfinanzierung der vom Broterwerb Ausgeschlossenen" aufzuwenden? Ist der konventionelle Umgang mit der Situation etwa billiger? Im Osten, so scheint es, wird die Hartz-Politik zu einer eruptiven Beschädigung von Demokratie und Freiheit führen. Das ist ein zu hoher Preis.Tanja Busse u. Tobias Dürr (Hg.): Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance. Aufbau, Berlin 2003, 328 S., 15,90 EURKristina Bauer-Volke und Ina Dietzsch (Hg.): Labor Ostdeutschland. Kulturelle Praxis im gesellschaftlichen Wandel. Kulturstiftung des Bundes, Halle 2003, 368 S., Bezug über: www.bpd.de, Bestellnummer 2163, Bereitstellungspauschale 4 EUR
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