Beirette

KEHRSEITE Am Anfang ein Wunsch. Der lag auf den Lippen und purzelte heraus, purzelte und war wirklich nicht groß, eigentlich fast lächerlich, nicht viel mehr ...

Am Anfang ein Wunsch. Der lag auf den Lippen und purzelte heraus, purzelte und war wirklich nicht groß, eigentlich fast lächerlich, nicht viel mehr als eine Schokolade oder Bifi, ein kleiner Wunsch also, nach einem Fotoapparat, fast schon vorsintflutlich, eine Nebensächlichkeit sozusagen, im Angesicht der vielen laufenden Bilder, fast schon eine Verräterei, dieser Wunsch; vielleicht soll doch nicht alles so schnell gehen, soll nicht so flüchtig sein. Vielleicht will sogar schon ein Kind noch etwas festhalten von dieser Welt, bevor es zu spät ist.

Als zweites noch ein Wunsch, nicht auf den Lippen, also auch nicht purzelnd, dafür mit Vergangenheit beladen, mit Erinnerung; nein, ein Knipskasten ist kein Fotoapparat, Knipsen ist nicht Fotografieren, Fotografieren muss man lernen; Blende, Belichtungszeit, Schärfentiefe; Knipsen ist was für - nun, reden wir nicht darüber, und wer noch nie mit schweißfeuchtem Gesicht in einer Dunkelkammer gesessen hat, das Wunder in der Entwicklerschale bestaunend, das Entstehen aus dem Nichts, das Wachsen aus der weißen Fläche, der weiß sowieso nichts, also keinesfalls ein Knipskasten, ein billiges Plastikding, so wie ein billiges Keyboard oder Barbiepuppen oder hässliche Wechselwesen auf Sammelbildchen.

Also zwei Wünsche, Vater und Sohn, klassisch, und dagegen die halbe Welt, wenigstens, denn: Knipskästen gab es jede Menge. Und jeder Verkäufer erwartete für das Kind ganz selbstverständlich den Kauf eines dieser Dinger, woraus folgte, was man schon bei den Preußen Spießrutenlaufen nannte. Wer denkt auch daran, dass ein Kind freiwillig so etwas will; Blende, Belichtungszeit, Schärfentiefe, mein Gott, da bricht man sich ja die Zunge, das macht doch einen Knoten ins Gehirn, das kann doch ein Kind nicht können wollen. Das Grinsen der Verkäufer wurde von Laden zu Laden schiefer, was vielleicht an den immer verbisseneren Gesichtern der beiden Wunschträger lag. Und irgendwann gibt man natürlich auf. Vater und Sohn gaben auf und gingen nur noch pro forma in den letzten Laden, An-und-Verkaufshaus Nr. 7 oder 12, mit einem Verkäufer, der sofort zugab, keine Ahnung zu haben, dafür aber zwei Fotoapparate aus seinem Schrank holte, nicht für 250 Mark, nicht für 100, für 10, zwei nagelneu wirkende Apparate in ledernen Taschen mit Riemen und innen rotem Samt, Beiretten, uralte Dinger seien das, sagte der Mann, und ob sie noch funktionieren, wisse er nicht, und der kleine Wunschträger bekam schmale Augen, weil der große Wunschträger schon welche hatte, und dann wurde schnell eine der beiden Kameras gekauft, eine richtige Kamera, mit Blende und Entfernung und vier Belichtungszeiten, worauf eine längere Erklärung folgte, was denn eine hundertfünfundzwanzigstel Sekunde sei. So endete der Spießrutenlauf bei einem, der keine Ahnung hatte.

Und einen Tag später ging der kleine Wunschträger wie ein König über den Spielplatz und rief zum großen Wunschträger auf der Bank: "Papa, was meinst du, Sechzigstel oder Hundertfünfundzwanzigstel?" Und der große antwortete: "Na ja, bei ISO Zweihundert und dem Wetter, da nimm mal die Hundertfünfundzwanzigstel, bei Blende Elf, und alle beide, der große und der kleine, genossen die staunenden Augen der Väter, Mütter und Kinder ringsum, und die alte Kamera, die kein Knipskasten ist, wurde so ehrfürchtig beäugt, als wäre sie der supermodernste Digitalapparat des berühmtesten rasenden Reporters, den es gerade gibt, und das leise Klick des Auslösers war das geheimnisvollste Geräusch auf dem ganzen Platz, und alles zusammen, an diesem Spätsommertag des Jahres 2000, alles zusammen war Glück.

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