Zuerst hieß es Backhäusle. Überall, wo ich in Leipzig einen Laden dieser Kette fand, waren Häusle weit entfernt. Und gebacken wurde hinter dem Tresen auch nicht. Käsig weiße Teigdinger schob man in einen Mikrowellenofen, wenn's fertig war, piepste es und die Verkäuferin musste nicht einmal den Ausschaltknopf drücken. Der Hitech-Ofen konnte das auch ohne sie. Aber immerhin roch es manchmal noch so ähnlich wie beim Bäcker, und Vergangenes verklärt sich ja von selbst.
Backhäusle ist vergangen, seit ein paar Wochen. Jetzt gibt es beim Bäcker Bockwurst, englische Teemischung für 1,50 DM und eingeschweißten Schinken. Einer von jenseits der ehemaligen Grenze ist der Neue und wie es scheint, ein Weltbürger. Das anheimelnde Backhäusle mutiert zum Snack-Point. Aber auch sonst, das heißt von der neuen grünen Scheibenbeklebung mal abgesehen, fühlt er sich ganz augenscheinlich dem Amerikanischen verpflichtet, von Busch II lernen, heißt Siegen lernen oder so ähnlich, und viel früher als die Kunden hatten das die Verkäuferinnen zu spüren bekommen. Aber, es gibt Frauen, die reden nicht besonders viel. Und wenn man sie nicht anspricht, sagen manche gar nichts. Die Nase läuft, die Augen tränen, die Gesichtsfarbe entspricht der der Teigdinger vor der Mikrowelle mit einem großen roten Streusel in der Mitte, und der Gang ist taumlig wie der eines besoffenen Matrosen. Aber ohne ein Wort werden Brötchen und Kuchen verkauft und ohne ein Wort wird das Gesicht zur Grimasse verzogen, die ein Lächeln sein soll. Immer freundlich, das mögen die Kunden, Kundenbindung, das gehört zum Handwerk, und Handwerk soll doch goldenen Boden haben.
Ich Kunde habe gesehen, wie die Frau auf ihren Stuhl hinterm Tresen sackte - als wäre sie ein Luftballon, den eine Nadel erwischt hat - kaum dass ich zur Tür hinaus war. Alltäglicher Kapitalismus, dachte die östliche Hälfte meines Kopfes. Altlast, höhnte die westliche. Ich blieb unentschlossen stehen, hinter mir fiel die grün beklebte Glastür ins Schloss. Aus irgendeiner Ecke meldete sich: Da kann man ja doch nichts machen. Wenn die Frau krank ist, dann muss sie eben zum Arzt gehen. Und wenn sie nicht geht, ist sie selber Schuld. Außerdem schmelzen die Polkappen, das sind die Probleme. Aber vielleicht könnte man ihr wenigstens gute Besserung wünschen und sagen, dass die Grippewelle umgeht, ein paar halbe Sätze eben, damit sie vielleicht nicht ganz so verloren auf ihrem Stuhl hockt.
Ich drehe also um und gehe zurück in den Laden. Die Frau rutscht von ihrem Stuhl hoch und meine paar halben Sätze sind plötzlich nichts weiter als süßliches, unverbindliches Mitleid, überflüssig und peinlich. Trotzdem scheint sie sich zu freuen, und eine halbe Minute später sind wir tatsächlich im Gespräch, und ich erfahre, dass Backhäusle eine Ostfirma ist, die ihre Läden gerade noch so abstoßen konnte, es geht eben abwärts. Nur der Neue, der will davon natürlich nichts wissen. Der will von so manchen Dingen nichts wissen, sagt die Frau und ich entdecke in ihren Augen tatsächlich so etwas wie Wut. Zum Beispiel will er nichts davon wissen, den Frauen für den Sonntag, den sie regelmäßig arbeiten, einen anderen freien Tag zu geben. Von Tariflohn will er auch nichts wissen, Überstundenvergütung sei ein Relikt aus besseren Zeiten und natürlich muss das Angebot in den Läden erweitert werden, die Reinigung findet durch die Verkäuferinnen statt und einen Betriebsrat, damit sollen sie gar nicht erst kommen, das wäre ja noch schöner. Außerdem kriegen viele Leute nicht pünktlich ihren Lohn. Was sind schon drei, vier Monate, es ist halt schwierig auf dem Markt und es gibt ja auch viele Arbeitslose und Frauen über vierzig sind besonders viel arbeitslos, nicht? Ich stehe da wie bedeppert. Aber die Frau putzt sich ihre glühend rote Nase, schluckt und freut sich augenscheinlich, dass sie mal jemandem erzählen kann, was hinter dem Tresen so los ist.
Tja, so ist das Leben der Loser, sagt meine westliche Gehirnhälfte und zuckt die Schulter. Die östliche fährt auf und poltert: Arschloch. Ich frage die Frau vorsichtig: "Und die Gewerkschaft?" -"Ach hör'n Se uff", entgegnet sie und macht eine wegwerfende Handbewegung. Es sieht so aus, als hätte die Hand schon Übung. "Die können auch nichts machen. Und eine Kollegin, die sich ihren freien Tag für den Sonntag über das Arbeitsgericht geholt hat, wird seitdem fein als Springer durch ganz Leipzig gejagt, mal hier, mal da, hin und her. Die fährt durch die ganze Stadt, die Frau, nur weil sie gewagt hat, den Mund aufzumachen. So ist das. Und da kann die Gewerkschaft gar nichts machen, ihren freien Tag bekommt sie ja." - "Wenn die Dinge so liegen, sollten Sie vielleicht doch mal darüber nachdenken, sich irgendwie zusammen zu tun", sage ich. "Und wer soll das machen?", fragt sie. "Na vielleicht doch die Gewerkschaft?", entgegne ich. "Ach hör'n Se uff", sagt sie und macht wieder diese Handbewegung. "Die stecken doch alle unter einer Decke. Und jetzt hat der Neue sogar noch Fördermittel von Sachsen bekommen. Nur Wessis kriegen sowas. Vielleicht ist er auch so ein Freund von dem Biedenkopf, das pfeifen ja die Spatzen von den Dächern, dass du ein Freund von dem Biedenkopf sein musst, dann geht das schon. Ist fast wie bei Honni".
Die undankbare Ostzone mit Hang zur nostalgischen Verklärung, es soll halt Leute geben, bei denen Hopfen und Malz verloren ist. Ich versuche mich zu erinnern, wo stand, was meine westliche Gehirnhälfte abspult, finde es aber nicht und beschließe den geordneten Rückzug. In ein paar Tagen hat sich der Schnupfen der Frau verflüchtigt und außerdem: Ossi, Wessi, Backhäusle, Snack-Point, das ist alles eine Soße, und die Frau und die Gewerkschaft, und überhaupt fehlt bloß noch, dass sie da hinterm Tresen anfängt, Stories von den Montagsdemos zu erzählen. Die ist doch bloß die Reinkarnation des DDR-Profimeckerers, raunt meine westliche Hälfte. Die können nicht vertragen, dass sie jetzt richtig arbeiten müssen. Die Frau steht derweil hinterm Tresen und schaut mich an, als erwarte sie von mir irgendeinen Rat. "Und wenn Sie sich erst mal krank schreiben lassen?", frage ich. "Ha", sagt sie und es ist klar, dass so was Dämliches nur einer fragen kann, der keine Ahnung hat. Trotzdem, denkt meine östliche Hälfte. Ich will es hören: "Sie sind krank." -"Wie heißt denn der Stern, von dem Sie kommen?" fragt die Frau. "Na ja", sag ich. "Krankheit ist also ein Kündigungsgrund."
Die Frau schweigt schon wieder, als erwarte sie einen Rat. Aber da geht endlich die Tür hinter mir. Eine füllige Frau mit Einkaufsbeutel wünscht burschikos "Guten Tag" und ich komme mit meinem Brot davon, halb rückwärts und mit eingezogenem Kopf.
Ein paar Tage später, ich habe die rote Nase schon vergessen, die Polkappen schmelzen immer noch, ewiges Eis, irgendwelche Forscher freuen sich auf Mammute und Ötzis, trete ich wieder in den Laden. Nicht mal die neue grüne Scheibenbeklebung fällt mehr auf. Ich trete ein und die Frau erhebt sich taumelig von ihrem Stuhl. Draußen ist herrlicher Sonnenschein. Als vor ein paar Wochen die Scheibenbeklebung noch Backhäusle-gelbbraun war und es englische Teemischung nur in der nahen Kaufhalle für 60 Pfennige gab, habe ich die Frau nicht so gesehen, die eine nicht und die andere auch nicht, die Kollegin, die mit ihrem breiten Sächsisch und ihrem Alter schon längst eine gemütliche Lene Voigt-Oma sein könnte. Ist eben doch noch ein Unterschied zwischen Hüben und Drüben, meint nachdenklich meine östliche Hälfte. Ossis müssen Ossis nicht das Arbeiten beibringen. Trotzdem gehen die Läden pleite. Ohne Landesvaterfreundschaft. Ich schüttele den Kopf. Die Frau hinterm Tresen mustert mich abschätzend. Schnell frage ich, wie es denn der Gewerkschaft so gehe. Die typische Handbewegung kommt prompt. Pawlowscher Reflex, denken beide Gehirnhälften gleichzeitig. Die Frau sagt, dass die Gewerkschaft was von Betriebsrat erzähle und ansonsten die Schultern zucke. Dafür kämen jetzt zwei Mal die Woche Berater, jedes mal mit neuen Anweisungen vom neuen Chef. Und neue Öfen für die Brötchen sollen auch gekauft werden, wo doch jetzt die Fördergelder da sind. Es werde schon aufwärts gehen und neulich habe sie sogar eine Bockwurst verkauft. Wie zur Bekräftigung nestelt sie ein Zellstofftaschentuch unter ihrer weißen Kittelschürze hervor und bläst den Inhalt ihrer roten Nase kräftig hinein. "Also alles Asche", sage ich. "Man kann nichts machen", entgegnet sie. "Die sind alle feige und denken zuerst an sich. Da will man lieber nicht anecken. Wenn sie sonst nichts begreifen - das geht immer rein in die Schädel." Wie in Zeitlupe legt sie die Papiertüte mit meinen vier Brötchen auf den Glastresen. Und während sie das Wechselgeld abzählt, setzt sie hinzu: "Ich hab früher schon im Handel gearbeitet, am Brühl, sogar auf der Messe. Manchmal haben wir geschuftet bis zum Umfallen. Aber so, wie's jetzt ist, das hätte sich keiner vorstellen können. So, wie's jetzt ist, sind wir hinter der Ladentheke der letzte Dreck. Und was haben wir gelacht, als die von Drüben kamen und meinten, wir sollen unbedingt die Gewerkschaften in den Betrieben lassen. Die haben nichts von unseren Bonzen gewusst und wir nichts von dem hier. Aber wenn man sowas sagt, dann ist man ja gleich der Jammer-Ossi."
"Und wenn man's alles in die Zeitung schreibt?" Die Frau zuckt zusammen. Dann wird sie ein paar Zentimeter größer. So, wie sie jetzt steht, denke ich, könnte sie tatsächlich mit um den Ring gelaufen sein. Nieselregen, Nacht, Ring und hunderttausend Leute, das vergisst man nicht so schnell. Die Frau schüttelt nur den Kopf: "Die würden sowas sowieso nicht schreiben, die hängen in allem mit drin. Eine Krähe hackt der andern ... Ich weiß nicht." -"Wenn man's nicht probiert, kann man's nicht wissen", entgegne ich. "Ich muss erst nachdenken", sagt sie und drückt mir das Wechselgeld in die Hand. "Ich komme in ein paar Tagen wieder", verspreche ich und gehe langsam aus dem Laden. Draußen ist immer noch endloser Herbst. Die Erde hat Fieber, denkt meine östliche Hälfte. Da könnte was dran sein, meldet die westliche. Und die Polkappen schmelzen im Snack-Point. Da auch, meinen beide zusammen und ich bin froh, dass sie manchmal auch einig sein können.
Die Verkäuferin habe ich bisher nicht wieder im Laden gesehen.
Zwei Wochen später: anderer Laden, anderer Stadtteil, andere Verkäuferin. Gelbgrüne Scheibenbeklebung. Ich trete ein, aus alter Freundschaft sozusagen. Hinter dem Tresen steht eine Frau. Warum macht sie sich so krumm, denke ich, so alt sieht sie doch nicht aus. Dann merke ich, vielleicht auch weil mein Kaffee so kräftig dampft, dass sich die Temperaturen vor dem Laden und im Laden nicht wesentlich unterscheiden. Ich wärme meine Finger an der Tasse: "Besonders warm haben Sie es ja gerade nicht hier", sage ich. "Ach hör'n Se bloß uff!" entgegnet sie und macht mit ihrer Hand eine mir seltsam vertraute Bewegung.
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