Zum Opportunismus der führenden Akteure des „bürgerlichen“ Lagers in Thüringen ist mittlerweile alles gesagt worden. Doch das Fiasko der Kemmerich-Wahl offenbart ein tiefer gehendes Dilemma, in dem vor allem der christdemokratische Konservatismus gefangen ist; ein Dilemma, an dem die Union zu zerbrechen droht.
Der vorliegende Band solle „Konservative ermutigen, ihren Standpunkt offensiv in die Waagschale zu werfen“, schrieb Mike Mohring im Vorwort des Buches Was heißt heute konservativ?, das er mit herausgab. Die Antworten auf diese Leitfrage müsse sich seine Partei bei der erforderlichen Schärfung ihres Profils zu Herzen nehmen, denn „ein flaches Profil und weiche Botschaften haben nicht dazu geführt, mehr neue Wähler zu finden, als die CDU an anderer Stelle verloren hat“. Diese Einschätzung stammt allerdings nicht erst aus dem Jahr 2017, in dem im Gefolge des schlechten Wahlergebnisses erstmals von einer Krise der Union die Rede war, sondern aus dem Jahr 2009, und Mohring galt seinerzeit als einer, dem man die klarer konservative Konturierung christdemokratischer Politik zutrauen konnte. Doch elf Jahre später ist die Problematik, mit der sich der deutsche Konservatismus konfrontiert sieht, nur noch offenkundiger geworden. Denn auch wenn Mohring und andere in der Christdemokratie immer wieder eine konservative Erneuerung beschworen und bis heute beschwören, blieb diese aus einer Reihe von Gründen aus und erscheint im aktuellen Kontext zudem bedenklicher denn je: Von jeher fiel es den selbst ernannten konservativen Erneuerern schwer, zu erläutern, worin denn nun genau die konservative Profilschärfung bestehen sollte. Heute kommt hinzu, dass jeder konservative Akzentuierungsversuch allzu leicht den Eindruck erweckt, die Union werde von der AfD vor sich hergetrieben. In die Sackgasse, in die dieser Versuch führt, bog die CSU im bayerischen Landtagswahlkampf 2018 ein und fand erst kurz vor der Wand den Rückwärtsgang.
Diese strategischen Schwierigkeiten verschärfen sich zuletzt noch dadurch, dass die Christdemokratie davon ausgehen muss, dass ihr wahrscheinlichster Koalitionspartner nach der nächsten Bundestagswahl die Grünen sind. Positionierte sich die Union nun dezidiert konservativ, so brächte sie sich womöglich von vornherein um die aussichtsreichste Option, wieder in die Regierung einzuziehen. Und auch diese Facette des Dilemmas verkörpert Mohring, der trotz aller stramm konservativer Parolen 2013 auch eine Koalition mit den Grünen auf Bundesebene befürwortete.
Feindbilder fehlen
Der sich aus dieser Konstellation ergebende Richtungsstreit schwelt in der Union seit Jahren vor sich hin, ohne dass es die Führungsspitze geschafft hätte, ihn in die eine oder andere Richtung zu entscheiden oder zumindest auf produktive Art zu moderieren. Das Resultat ist ein christdemokratischer Konservatismus, der ausgezehrt, erschöpft und orientierungslos wirkt und dessen bemerkenswerteste Leistung vielleicht darin besteht, die damit verbundene weitgehende Preisgabe politischen Gestaltungswillens bis in die jüngste Vergangenheit als die Kunst des seriös-pragmatischen Politikmanagements erscheinen zu lassen.
Die Unbestimmtheit, die heute mit wenigen Ausnahmen wie der „schwarzen Null“ den christdemokratischen Konservatismus kennzeichnet, ist auch ein Resultat verloren gegangener Gegnerschaften vom real existierenden Sozialismus bis zu den bereits erwähnten Grünen. Stärker als andere Ideologien ist der Konservatismus reaktiv veranlagt und zieht seine Kraft gerade aus seinen Feindbildern; dementsprechend schwächt das tendenzielle Verschwinden seiner traditionellen Antagonisten auch den Konservatismus selbst.
Dass die Union nach wie vor die Zusammenarbeit mit der Linkspartei ausschließt, ist daher nicht zuletzt deshalb erforderlich, weil ein inhaltlich weitgehend entkernter christdemokratischer Konservatismus keinesfalls die wenigen Abgrenzungsmöglichkeiten aufgeben darf, die seiner brüchig gewordenen Identität noch einen Rest von Stabilität verleihen.
Damit ist in etwa das Gesamtdilemma beschrieben, in dem sich Mohrings CDU-Fraktion wiederfand: Der christdemokratische Konservatismus droht in eine inhaltliche Beliebigkeit abzugleiten, die sich nur noch notdürftig als undogmatischer Pragmatismus kaschieren lässt. Umso wichtiger werden daher die roten Linien nach links – und nach rechts –, die zumindest noch die diffuse Selbstverortung in einer mythisierten „Mitte“ zu verbürgen scheinen. Doch eine Partei kann sich nicht gleichzeitig inhaltliche Abstinenz und kategorische Abgrenzungen leisten – zumal wenn sie in ostdeutschen Verhältnissen Handlungsfähigkeit und Gestaltungswillen für sich beansprucht – denn diese erscheinen vor dem Hintergrund des inhaltlichen Vakuums irgendwann willkürlich und ritualisiert und können die Bürde der konservativen Selbststabilisierung immer weniger tragen.
Der nonchalante Tabubruch der Thüringer CDU ist auch Ausdruck dieses Dilemmas, und angesichts fehlender Strategien zu seiner Überwindung gibt es tatsächlich Grund zur Sorge, ob die vielbeschworenen Brandmauern tatsächlich weiter halten oder ob nicht das aktuelle Driften der CDU in das mündet, was der Hobby-Pilot Friedrich Merz unter dem Begriff des „Tailspin“ kennen dürfte: das unkontrollierbare Trudeln einer Maschine vor dem Absturz, zu dessen Kollateralschäden im Fall der CDU wohl auch das deutsche Parteiensystem gehören würde.
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