Jean-Baptiste-Camille Corot: Rom, Forum und die Farnese-Gärten
Als Grand Tour werden die obligatorischen Bildungsreisen junger Blaublüter der Renaissance bezeichnet. Durch die Reisen mit Bildungscharakter in die europäischen Metropolen, wie Paris, London oder Rom, sollten die Adelssöhne auf ihr Leben in den höchsten Kreisen der Gesellschaft vorbereitet werden. Sie sollten ihre Kenntnisse in den auf diesem Parkett als wichtig angesehenen Sprachen wie Französisch und Italienisch perfektionieren; Kultur, Sitten und Politik der großen europäischen Nationen kennenlernen und Kontakte zu den großen Adelshäusern knüpfen, um im besten Falle die Netzwerke der eigenen Familienbande um diese zu erweitern. Die Grand Tour war sozusagen das Rundumpaket für die Vorbereitung auf ein erfolgversprechendes Adelsleben und dementsprechend die Voraussetzung für im wahrsten Sinne weitreichenden Erfolg in der Politiklandschaft der heimischen Gefilde.
Vom Abenteuer und vom Nutzen wenig übrig
Für die Entwicklung des modernen „demokratisierten“ Tourismus ist ihre Idee eine wichtige Einflussgröße, denn auch heute machen sich zahlreich vor allem Menschen der westlich geprägten Gesellschaften auf den Weg, den eigenen Horizont um andere Kulturerfahrungen zu erweitern. Vom Abenteuer und vom Nutzen renaissancerer Bildungsreisen scheint dabei aber nicht mehr viel übrig, werden doch die Eigenheiten der zu entdeckenden fremden Kulturen allzu oft in leider nur vermeintlich authentische Hotelperformances und Kunsthandwerksarbeiten verpackt, dem modernen Kulturtouristen als leicht zu erwerbende Erfahrung des Fremden zum Kauf angeboten. Dementsprechend vermögen es diese Erfahrungen kaum, in die heimische Lebenswelt implementiert zu werden und am Ende ist ein von der Reise mitgebrachtes kunstvoll besticktes Tischdeckchen in der heimischen Schrankwand vielleicht das einzige Zeugnis einer Fremdheitserfahrung, die es nicht schafft, das Alltagsleben des Weitgereisten signifikant zu beeinflussen oder gar zu verändern. Und das ist heute schließlich auch nicht unbedingt erstes Ziel, dient doch der moderne Tourismus eher einem Ausbruch aus Alltags- und Arbeitswelt, als einer Aneignung von Kompetenzen, die in diesen beiden miteinander verwachsenen Welten von Nutzen sein könnten. Was bei dieser Form des modernen Reisens von seinem renaissanceren Ursprung noch übrig ist, scheint allenfalls eine gewisse Statuserhöhung im Kreis von Freunden und Familie, die sich aus einer Fotoschau ergibt, während derer der „Abenteurer“ neben einer indianischen Tanzgruppe oder auf einem Safari-Jeep mit im Hintergrund vorbei trabender Giraffe zu sehen ist. Aber auch das scheint – einer gewissen inflationären Entwicklung in der Tourismusindustrie, was die Abenteuer- und Kulturproduktion betrifft – die Adressaten solcher Schauen heute nicht mehr in dem Maße zu beeindrucken, wie das vielleicht einmal der Fall gewesen ist.
Nähere Verwandte lassen sich finden
Doch ist diese Betrachtung mutmaßlich einseitig, da sie den Fokus zu sehr auf den Tourismus lenkt, den wir aus Reisekatalogen und anderen Formen der Tourismuswerbung kennen. Auch heute lassen sich noch nähere Verwandte der Grand Tour finden:
Zum einen die Auslandsaufenthalte junger Eliten, denen es gegönnt ist, eine Zeitlang an den besten ausländischen Universitäten zu studieren und dementsprechend Kompetenzen zu erwerben, die sehr wohl dazu dienen können, die eigene Rangprogression in der heimischen Wirtschafts- und Politikszene möglichst effektiv vorzubereiten (denen hier aber keine weitere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll) und zum anderen die Reisen junger Abenteurer, die aus eigenem Antrieb in die Welt ausschwärmen, um solche Gegenwelten zu entdecken, deren Besonderheiten am Ende tatsächlich in die eigene heimische Lebensrealität implementiert werden oder im besten Falle gar das gesamte gesellschaftliche Leben der heimischen Gefilde verändern sollen (denen dieser Artikel schließlich gewidmet ist).
Die Rede ist hier von politisch motivierten Reisenden oder auch den zumindest ideellen Nachkommen derer, die Enszensberger in einem Essay von 1974 als „Reisende in Sachen Sozialismus“ bezeichnet. Tatsächlich ist das hier beschriebene Reisephänomen ein nicht mehr ganz so junges, doch gewinnt es gerade in Zeiten einer hysterisch geführten Diskussion um eine oft als infernalisch erachtete Krise des kontemporären westlichen Wirtschaftssystems an Bedeutung. So wie sich in den 70er Jahren (in einer Zeit, in der die Wohlstandsgesellschaft des westlichen Nachkriegsdeutschlands, dessen Wirtschaft einzig auf Wachstum getrimmt war, erstmalig an ihre Grenzen stieß) sogenannte Solidaritätsbrigaden in die ihrer Ansicht nach Hoffnung weckenden sozialistischen Länder Lateinamerikas, wie Nicaragua oder Kuba bewegten, um nach Alternativen zum besagten versagenden westlichen Wirtschaftssystem Ausschau zu halten und diese am eigenen Leibe zu erfahren, so begeben sich auch heute wieder – in Zeiten einer neuen Krise, die ebenfalls als Nachfahre der vorherigen westlichen Wirtschaftskrisen bezeichnet werden darf – junge Idealisten auf den Weg, um Erfahrungen zu sammeln, die eine Alternative zu dem darstellen, was eine derartige Krise erneut auslöste. Und auch heute spielen dabei wieder – oder vielmehr immer noch – die Länder Lateinamerikas eine wichtige Rolle, so, als sollte die Bezeichnung „Neue Welt“ seit ihrer Entdeckung als Garant dafür stehen, tatsächlich neue Welten entdecken zu können.
Der Zapatismus hat Konjunktour
An dieser Stelle ist es sicher angebracht, das Reisephänomen an einem konkreten Beispiel zu erläutern. Hierzu eignet sich im besonderen Maße der sogenannte „Zapatourismus“ im Süden Mexikos. Seit im Jahre 1994 die sogenannte „Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung“ (EZLN) in San Cristobal de las Casas (Chiapas) einen Umsturz der politischen Verhältnisse in Mexiko anstrebte, wächst ihr Ansehen und damit ihre Bedeutung in der Internationalen Linken trotz der Niederschlagung des Aufstands stetig und enorm. Die Mitglieder der EZLN zogen sich nach dem anfänglichen Rückschlag in das überwiegend von Indigenen Gruppen bewohnte Umland zurück und etablierten dort ein System von zapatistischen Kommunen, deren politisches Konzept einer kreativen Mischung aus verschiedenen Elementen, wie indigenen Gemeinschaftsvorstellungen und Organisationsformen, Einflüssen von mexikanischen Anarchisten (z.B. Galindo, Ricardo Flores Magón) und Erfahrungen von mexikanischen Revolutionären (z.B. Emiliano Zapata, Pancho Villa, etc.) gleicht.*
Heute hat der sogenannte Zapatismus in der europäischen Linken Konjunktur, kann er doch auch als Projektionsfläche für das gesehen werden, was in den Augen vieler das Gegenteil zu politischer Entfremdung und Raubtierkapitalismus darstellt. Und so kommt es, dass sich seit dieser Entwicklung jedes Jahr hunderte überwiegend junge Menschen auf ihre persönliche Grand Tour begeben, um zum einen den Zapatismus zu unterstützen (durch ihre sogenannten Menschenrechtsbeobachtungen in den Communidades sollen selbige vor Übergriffen durch die Kontrollorgane des mexikanischen Staats bewahrt werden) und zum anderen um Erfahrungen zu sammeln – Erfahrungen mit alternativen Lebens- und Wirtschaftsweisen, die ihrer Ansicht nach das vermeiden können, was zu politischer Entfremdung, Weltwirtschaftskrisen und letztlich zu Konflikten und Kriegen führt. Das, was die Piraten in Deutschland und anderswo in Europa mithilfe des Internets versuchen, nämlich die Menschen näher an die Politik heranzuführen und sie an politischen Entscheidungsprozessen direkt zu beteiligen, funktioniert im Zapatismus etwas archaischer. Und genau das ist es, was viele politisch Reisende so sehr anzieht. Sich in ihren Herkunftsländern oft ohnmächtig einer gewaltigen Politikmaschinerie gegenüberstehen sehend, erfahren sie hier, wie eine direkte „Bürgerbeteiligung“ in Form der sogenannten Juntas funktioniert. Jedes Gesellschaftsmitglied soll in ihnen einmal die eigene Gemeinde vertreten können, rotierend aller zwei Wochen. Politik soll also nicht von einer herrschenden Politikkaste gemacht werden, sondern vom Bürger selbst – so zumindest die Theorie. Und nicht nur das politische System ist ein Magnet. Oft ist es auch die Einfachheit der indigenen Lebenswelt, die viele politisch Reisende als Gegenpol zu kapitalistischer Verschwendung von Ressourcen begreifen. Zurückgekehrt von Menschenrechtsbeobachtungen in den Kommunen erzählen viele von den Nächten in einfachen Hängematten und dem Bohnenkochen über offenem Feuer, geraten dabei ins schwärmen und kurzerhand stellen sie das Smartphone, die Ceranfeld-Kochplatte und das warme Daunenbett zu Hause in Frage.
Alles nur Spielerei?
Böse Zungen könnten jetzt behaupten, das sei alles Spielerei. Die jungen Leute wollten sich doch nur mal ausprobieren, an ihre Grenzen gehen. Und zu Hause würden sie sich dann wieder an ihr Ibook setzen und die wohltuenden Ergüsse kapitalistischer Vermarktungslogik in vollen Zügen genießen, ohne dabei an die armen Indigenen zu denken.
Doch muss diesen bösen Zungen tatsächlich Einhalt geboten werden, denn scheint die Realität eine andere zu sein – zumindest in der Mehrzahl der Fälle. Sich in den Zentren der Reisebewegung aufhaltend, namentlich in den unzähligen Hostels San Cristobals mit kommunikationsfördernden Mehrbettzimmern und weitläufigen Gemeinschafts-wohnräumen, bietet sich dem Beobachter ein dynamisches Bild von Aufbruch und Veränderungswille. Hier treffen Spanier, Italiener, Franzosen, Schweizer, Tschechen, Engländer und Griechen aufeinander und diskutieren über Politik und Wirtschaft, als sähen sie sich in einem Boot, während daheim von den sie angeblich repräsentierenden Politikern über Eurobonds und Fiskalpakte gestritten wird. Niemand kann hier so recht verstehen, warum das nicht auch anders gehen soll, enthusiasmiert von den gerade gemachten Erfahrungen in den indigenen Kommunen in den Bergen um San Cristobal de las Casas. Man macht Pläne, wie man letztere zu Hause am besten anwenden könne. Ideen von Permakultur-Hausbauprojekten im Umland von Berlin oder Werkstätten in Marburg, in denen sogenannte Bicimachinas hergestellt werden sollen, entstehen. Und am Ende sieht man sich persönlich einer Lösung aller modernen Menschheitsprobleme ziemlich nah und der eigenen Lebenswelt daheim genauso ziemlich fern.
Nun bleibt abzuwarten, inwieweit diese verhältnismäßig kleine Gruppe von modernen Grand Touristen es vermag, die eigene Lebenswelt und die Welt im ganzen zu verändern. Ihre ideellen Vorfahren, Enzensbergers „Reisende in Sachen Sozialismus“ jedenfalls leben heute allzu oft angepasst und mit den politischen Verhältnissen arrangiert in Einfamilienhäusern mit davor parkendem VW Passat oder sitzen gar in den europäischen Parlamenten und machen entfremdete Politik. Zu bewerten, inwieweit es in letzterem Fall der moderne Grand Tourist vermag, sich vom Antrieb seines viel älteren renaissanceren Vorfahren zu entfernen, wird nun dem Leser überlassen. Fest steht: die Grand Tour lebt, wenn auch heute in anderem Gewand.
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