Die Dame eröffnet das Spiel und betritt das Hotelzimmer mit der Nummer 64, um einen Mord zu begehen. Aber die Tat, das erweist sich schon bald, ist nur ein Wachtraum, geträumt in einem Flugzeug auf der Reise nach Indien.
Delhi heißt der Roman des 1971 geborenen Autors Marcus Braun, und sein Held heißt Goester - »mit oe, mein Vorname ist zu lächerlich«. Zu dessen Eigenschaften zählt nicht nur, ab einem bestimmten Alkoholpegel weiterzutrinken »bis zur Bewußtlosigkeit« und seine Augen unscharf stellen zu können, sondern auch die seit der Kindheit geübte Fähigkeit, Filme im Kopf nachzuspielen und darin Haupt- oder doch zumindest glänzende Nebenrollen einzunehmen.
Welche Rolle er in diesem Traum eines lächerlichen Mannes einnimmt, bleibt ebenso unklar wie das Spiel, das darin gespielt wird. Von den Regeln nicht zu reden. Vielleicht will Goester wirklich nur die wegen ihrer Architektur so berühmten Observatorien von Jaipur und Delhi besuchen. Möglicherweise ist er auf der Flucht - oder auf der Suche, was im Grunde dasselbe ist. Wobei der männliche Europäer für solche existentiellen Fälle gewöhnlich zwei Möglichkeiten ins Auge faßt: entweder mietet er im amerikanischen Mittelwesten einen Wagen und nimmt den nächstbesten Lost Highway, ein gegenwärtig etwas abgenutzter Plot. Oder er reist in die entgegengesetzte Richtung (Go east, wie der Name schon andeutet), steigt in einem heruntergekommenen indischen Hotel ab und geht durch die Städte mit den zauberhaften Namen, Bombay, Kalkutta, Delhi, geht zu Fuß »durch das Gewimmel der Körper und der Dinge«. Und am Ende geht er meistens verloren.
Die Braunsche Mixtur von Selbstsuche, Selbstsucht und Selbstverlust enthält alle Zutaten eines exotischen Drinks: Wissen und Erotik in Gestalt einer schönen, aber undurchsichtigen Frau, Archaik und Gewalt in der Person eines ebenso freundlichen wie hühnenhaften, wenngleich bald ins Zwielicht geratenden Schwarzen, den Part des Gehimniskrämers übernimmt ein seltsamer Forscher, der sich mit Fluginsekten befaßt und dessen Hobby im Erstellen von nicht weniger seltsamen Schachaufgaben besteht, zum Beispiel solchen, bei denen nur die Züge von Weiß bekannt sind, während diejenigen von Schwarz erraten werden müssen.
Genau darin besteht die Aufgabe des Lesers. Er betritt ein Feld, auf dem er kaum ahnen, nur raten kann, welche Züge tatsächlich gemacht worden sind und welche folgen werden. Immer wieder erwacht Goester aus einem Traum, aus einem Vollrausch, wird einmal sogar unter Drogen gesetzt. Und mit jedem Erwachen schwindet die Gewißheit, daß das, was eben erzählt wurde, auch geschehen ist. Hat Goester das indische Bordell jemals besucht und dort die Pistole gekauft? Ist tatsächlich ein Attentat auf den radikalen Hindu-Politiker geplant? Soll Goester sterben, weil er durch Zufall von der Verschwörung erfuhr, die er seinerseits verhindern will? Und in welcher Beziehung stehen eigentlich Sophie und Clayborne, der Verschwörer, dessen Züge keiner kennt? Es ist alles ein ziemliches Rätsel, zumal Goester an sich selbst zu zweifeln beginnt: »Unter Umständen hatte es in (seinem) Schädel einen kohärenten und deshalb unbemerkten Kurzschluß gegeben, der alle logischen Sicherungen durchgehauen hatte.« Unter Umständen kommt es ja für den Leser darauf an, die vielen losen Enden zu verknüpfen, einen kohärenten Kurzschluß zu erzeugen, ohne auf die herkömmliche Logik zu achten. Unter Umständen sollte er sogar, wie Goester, sein inneres Auge unscharf stellen, dann ergibt sich aus den zahlreichen Wiederholungen und Echoeffekten, den Ähnlichkeiten und Parallelverschiebungen womöglich ein kohärentes Bild. Doch ob das hilft, ist keineswegs sicher. »'Ich muß irgendwann einen großen Fehler gemacht haben', sagte Goester« - schon ziemlich am Ende und mehr zu sich selbst. Der Leser kann es nachempfinden, ihm geht es nicht anders. Immer hat er das Gefühl, irgendwann irgendetwas überlesen zu haben, und zwar etwas wichtiges.
Was hat Marcus Braun da eigentlich geschrieben? Ein indisches Nachtstück? Ein Labyrinth der Einsamkeit? (Jeder kann sich im übrigen die literarischen Paten - sie stehen in diesem Buch Schlange - selbst heraussuchen. Mehrfach genannt wird zumindest Julio Cortázar, ein Liebhaber der immer ein wenig rätselhaften, immer ein wenig unheimlichen, dabei ganz eigene Regelwerke entwickelnden Erzählungen.) Eine Stärke des Romans liegt darin, wie er die Spannung aufrecht erhält, ein Effekt nicht zuletzt der kunstvoll geknüpften, eben den Eindruck von Kohärenz suggerierenden Verbindungen, so daß man trotz (oder gerade wegen) einer zunehmenden Verunsicherung weiterliest, und zwar selbst dann noch, wenn der Autor die Maschine vor den Augen des Lesers durchdrehen läßt und eine Passage fast wortgleich wiederholt, um sie im nächsten Abschnitt umzukehren.
Wenn man diesem glänzenden Debut etwas vorwerfen wollte, dann seinen Narzißmus. Braun ist verliebt in seine eigene Raffinesse, in sein Changieren zwischen Traum, Film und Spiel, in seine Fähigkeiten, immer wieder neue Züge zu ermöglichen oder zumindest nahezulegen. Er hat alles genauestens durchkalkuliert. Nicht nur, daß er seinen Roman im Ursprungsland des königlichen Spiels ansiedelte, dieser hat außerdem acht Kapitel und 32 Abschnitte, womit die Schacharithmetik noch längst nicht beendet ist. Am Schluß betritt Sophie noch einmal ein Hotelzimmer, diesmal trägt es die Nummer h8, das letzte Feld, von Weiß aus betrachtet und für gewöhnlich die Ecke des schwarzen Königs. Doch wer sollte das sein? Und wer ist die unbekannte, zweifelsfrei weiße Wasserleiche, der die Augen fehlen? Es sei jedem Leser überlassen - und empfohlen! -, die Partie selbst nachzuspielen und die fehlenden Züge zu ergänzen.
Marcus Braun: Delhi. Roman. Berlin-Verlag, Berlin 1999, 174 Seiten, 32,- DM
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