Der Träumer von Radebeul- Karl May, das ewige Rätsel

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Der Mann war vieles: Kosmopolit und Weltbürger, Angeber und Hochstapler, Indianerfreund, Schriftsteller, Lyriker, Erzähler, ja und sogar Komponist. Er, aus ärmsten Verhältnissen stammend, in der Jugendzeit kriminell, der niemals eine Hochschule besucht hatte, wurde der meistgelesenste deutschsprachige Autor des 19. Jahrhunderts. Viele seiner Figuren sind bekannter als der Autor selbst: Winnetou, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, Rih, die Silberbüchse und der Henrystutzen, Hadschi Halef Omar und Sam Hawkins. Und trotz aller wissenschaftlichen Forschung: Karl Friedrich May (1842 bis 1912) ist und bleibt ein ewiges Rätsel. Jeder, der schreibt, braucht und hat Phantasie, doch woher kam diese bei einem Jungen, der im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern niemals in einem Akademikerhaushalt aufgenwachsen ist, dem die griechische Mythologie und die Klassiker der Vergangenheit nicht mit der Muttermilch mitgegeben wurden? Ja, nicht mal der Name war exotisierend: Karl Mays gab es vor und nach ihm unzählige, kein Name der herausstach. Und dann das Schicksal: bis zu seinem 5. Lebensjahr war er blind, eine Tatsache, die umso erstaunlicher ist, wenn man weiß, dass mit damaligen Mitteln eine Blindheit kaum heilbar war, es ist ja heute kaum möglich. Dann sieht er auf einmal: Heureka! Wie eine zweite Geburt. Aus dem blinden Kind Karl May wurde der "Phoenix von Sachsen", der sich später als Aufschneider, er habe viele der Reisen selbst erlebt, beinahe verbrannt hätte.

Ein Kapitel im Leben von May aber hat schon seit Jahrzehnten ebenfalls die Phantasie vieler Schreiberlinge angeregt: schon Arno Schmidt konstantierte, dass Karl May wohlmöglich homosexuell war und erklärte dies an den Bildern in seinen Werken, den Freundschaftskulten zwischen Winnetou und Old Shatterhand und den "Transvestiten" wie Tante Droll und Hobble Frank. Doch Schmidt hat noch einiges vergessen, was seine These untermauern könnte: von dem jugendlichen May ist keine Liasion mit einem Mädchen bekannt, auch nicht in dem Alter, in dem fast jeder Junge früher oder später um das "zarte Geschlecht" wirbt. Auch die Tatsache, dass er zwei Ehen eingegangen war, die beide kinderlos blieben (sagt man doch Frauen nach, sie hätten früher oder später einen Drang danach, Kinder zu bekommen), ist mehr als seltsam, da seine Frauen durchaus auch den Status von Alibi-Liebschaften haben konnten. Da ist der offen homosexuelle Maler Sascha Schneider, mit dem May befreundet war, eine Aversion gegen Schwule hatte er also keine, sonst wäre er nicht in der damaligen Zeit mit ihm befreundet gewesen. Und ein Aspekt wird in diesem Zusammenhang fast gar nicht erwähnt: nicht nur der Freundschaftskult zwischen Winnetou und Shatterhand könnte ein Hinweis sein, sondern seine Liebe zu allem, was mit Indianern zu tun hatte. Weiß man doch, dass Homosexualität bei Indianern schließlich einen anderen Stellenwert besitzt, als dies in den europäischen und westlichen Kulturen der damaligen Zeit der Fall war. War hier der Wunsch Vater des Gedankens? Sehnte sich May insgeheim nach den "Wilden", wo er hätte wohlmöglich sein können, wie er wirklich war? Einen ähnlichen Gedankenstrang findet man bei Fernando Pessoa, der in der berühmten Meeresode sich wünscht, dass die Matrosen ihn zerreißen und matern, weil er wohlmöglich auf Matrosen stand? May war sehr hoch begabt. Er hatte nicht nur eine literarische, sondern auch eine poetische und eine musikalische Begabung, etwas, was nicht häufig vorkommt, zumal bei Menschen seiner Herkunft. War dies vielleicht der Ausgleich für die Leiden, die May in seinem Leben erdulden musste? Et in terra pax- Und Friede auf Erden ist ein Roman von ihm. Dies könnte man doppeldeutig sehen: zum einen könnte damit der eigene Friede, der des Subjektes, gemeint sein, das endlich seine Ruhe haben will vor den Nachstellungen der Welt. Und dann natürlich die "klassische" Variante: der Kampf für den Frieden auf der Welt. Jedoch, war es damals nicht ungewöhnlich, dass ein Mann aus der Unterschicht, den viele als einen Trivialschreiber bezeichneten, sich mit dem Weltfrieden beschäftigte? Und was sollte bitte schön die berühmte letzte Rede vom "wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen", ein Vortrag, den Karl May vor vollbesetztem Hause hielt und sein letzter öffentlicher Auftritt war? Das Soziale und die Frage nach den Urgründen der Welt, die Suche nach der "Blauen Blume", wie sie schon Novalis gestellt hatte? Was war der Kern, der diesen Mann umtrieb? Ein berühmter Physiognom, dem man noch zu Lebzeiten Mays einige Bilder des Autor vorlegte, damit dieser ihn charakterisiere, stellte eine latente Weiblichkeit und Infantilität der ihm unbekannten Person im Gesicht fest. Selbst wenn man nan solche Physiognomik nicht glauben mag, es gibt kaum ein Bild mit May ohne Schnauzer, gilt dieser doch als Sinnbild für Männlichkeit, eine, die so bei May gar nicht existierte? Ebenfalls ist das weibliche Personal in seinen Büchern stark beschränkt: entweder sind es die antiquierten Rollen der Mutter, Ehefrau oder Liebhaberin oder wie im Falle der Mahradurimeh die der starken Führerin ihres Volkes.

Warum fragen wir uns heute eigentlich, ob May schwul war? Das kann doch egal sein, wird der geneigte Leser sagen. Ich guck mir trotzdem die Winnetou-Filme an und fiebere beim "Im Reiche des Silbernen Löwen" mit, ob diese es über den Salzsee schaffen. Nun, May war eine Person der Öffentlichkeit, die sogar Pressekonferenzen abhielt. Und er suchte diese Öffentlichkeit. Er hätte mit seinem Engagement viel tun können, Leuten wie Kertbenny und anderen unter die Arme gegriffen, er, der aufgrund seiner Prominenz unangreifbar war. Was von der seriösen May-Forschung, die angeblich nichts von den homophilen Zügen des Dichters wissen will (sonst kann man ihn ja nicht der Jugend als Erzieher verkaufen) abgelehnt wird, ist die Frage, ob die kriminelle Karriere des Mannes aus Ernsthal nicht etwas mit den Konflikten im Inneren Wesen Mays zu tun hatten? Das Gefängnis schließlich war schon damals ein Ort, wo Männer auf engstem Raume zusammensein konnten, ohne, dass dies gesellschaftlich geächtet wurde. Und die Diebstähle, die May begangen hatte? Uhren soll er geklaut haben. Lächerlich. Hatte er als Lehrer doch ein festes Einkommen, wenn auch erkläglich, aber setzt man wegen einer Uhr Ruf, Ausbildung und Arbeit aufs Spiel? Sicher nicht. Vielleicht fand May auch im Gefängnis die nötige Ruhe, um über sich selbst nachzudenken. Damals schon waren die Zeiten hektisch, gerade in größeren Städten. Brauchte der Jugendliche einfach eine Art "Auszeit", um sein Selbst zu finden, um sich zu finden? Waren die Figuren, die er erfand, sublimierte Wünsche, die er in der Literatur auslebte, weil es ihm im realen nicht möglich war? Er wäre sicher nicht der erste gewesen. Übrigens- und auch das ist nichts neues- Reise- und Abenteuererzählungen bzw. Romane sind auch eine Flucht: viele Menschen flüchteten ja in der Vergangenheit vor allem in die USA, weil sie aus religiösen, politischen oder sonstigen Gründen verfolgt wurden. Waren also die Fernen Welten, die May beschrieb, auch wenn er sie selbst niemals gesehen hatte, zumindest nicht in der Zeit, wo er die Bücher schrieb, nicht eine Flucht aus der Welt der Werte, der Moral, der Ethik, hinein ins Fremde Paradies, wo andere Wert- und Weltvorstellungen den Menschen prägten? Viele Beispiele aus der Realität ließen sich anführen:Charles Sealsfield (eigentlich Carl Magnus Postl), flüchtete in die USA, um dort das zu leben, was er in Europa nicht konnte, er war ebenfalls Abenteuerautor wie May, Arthur Rimbaud, der den Großteil seines Lebens in Afrika verbrachte, Lawrence von Arabien, in Arabien tätig, Sir Richard Burton (nein, nicht der Hollywoodschauspieler), der Ethnologe und Forschungsreisende, Bruce Chatwin, einer der bedeutendsten Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts, Lord Byron, durch ganz Europa gereist, E.M. Forster, der auch in Zentralasien unterwegs war, u.v.a. die gerne viel und weit reisten. Sie alle waren homosexuelle und flüchteten- vor sich selbst. Auch May flüchtete in andere Weltgegenden, weil ihm in der Heimat das Glück verwehrt blieb? Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben, sagt man allgemein. Das Fremde, weg von zuhause, von den Wurzeln und den Konventionen, erlaubt ein Leben, dass man nicht führen kann oder darf. Was wäre passiert, hätte May tatsächlich alle Reisen unternommen, die er in seinen Büchern beschrieben hatte? Und dann noch seine Lyrik: glatt, kein Schnörkel, trotzdem perfekt. Immer auf der Suche nach dem Edlen, dem Guten im Menschen. Auch hier ein Code, der eventuell nicht von jedem verstanden wird? Mays wohl seltsamstes Buch- vielleicht eine Art Autobiographie- ist der Roman "Der verlorene Sohn", eigentlich die übliche Trinker und Spieler Geschichte, die man schon von Dostojewski und Co. kennt. Und doch, ist der Verlorene Sohn nicht einer, der immer Außenseiter war und blieb? Sein ganzes Leben war May Außenseiter- Künstler aus ärmsten Verhältnissen, Krimineller und trotzdem als Erzieher der Jugend genannt, Held unzähliger Romane und Hochstapler, fleißiger Schreiber und Kämpfer um sein Urheberrecht gegen die Verleger. May war Außenseiter, er war niemals Mitglied der High Society, niemals bürgerlich, weder Familienvater noch Buchhalter, kein Professor und kein Beamter. Er war der verlorene Sohn seiner Zeit. Verloren in den Labyrinthen seiner Phantasie, seines Ichs. Ich ist ein Anderer, sagte schon Rimbaud und vielleicht trifft dies auf May zu, wie auf keinen Anderen: er war ein anderer, als er uns vorspielte. Es gab Karl May, den Menschen und Karl May, den Träumer. May war auch ein Anderer. Am 30. März 2012 jährt sich sein Todestag zum einhundersten Male. Howk, ich habe gesprochen!

Ende.

07.11.2011

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