Der Widerwille gegen die Vergangenheit

Sozialreformer Der portugiesische Sozialist, Sozialreformer und Dichter Antero de Quental war auch in Europa eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit.

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Die ehrwürdige Alma Mater ist voll besetzt. Unter den Gemälden der portugiesischen Könige, zuletzt Luis I., sitzen die alten Granden wie seit Jahrhunderten und nichts scheint sich zu regen und dann kommt er: Antero de Quental, mit über zwei Metern würde er auch heute noch auffallen, aber in Portugal, einem Land, in dem traditionell die Männer klein sind, ist er ein Phänomen, eine Erscheinung. Seine blonde Mähne, sein Bart, seine blauen Augen setzen sich auf einen der Sitze und durch eine kleine Handbewegung gibt er das Signal zur Revolution. Noch bevor der Rektor auch nur einen Ton gesagt hat, erhebt sich die ganze Aula und verschwindet wieder aus dem Saal, mehr noch, man marschiert mit rund 2000 Studenten auf Porto, dass als freieste Stadt des Landes gilt, um dort für mehr Rechte im verknöcherten System der Universitäten zu kämpfen. Der behäbige Staat bekommt es mit der Angst zu tun und fordert Militär an: 8000 Mann! kommen, um die Stadt gegen ein paar Studenten, die noch nicht einmal demonstrieren, sondern nur eine Resolution übergeben wollen, zu Felde ziehen. Es gab sogar viele tote Studenten.

Revolutionärer Vordenker

Diese Szene zeigt, dass Antero schon in jungen Jahren ein Revolutionär war. Geboren 1842 in Ponta Delgada, der Hauptstadt der Azoren, entstammte er dem Großbürgertum, dem er aber schon als Kind nix abgewinnen konnte. Der Umgang seines Vaters mit den Bediensteten war ihm ebenso ein Gräuel wie die latente Armut des Großteils der Bevölkerung. In der Nachbarschaft wohnte der Dichter Antonio Feliciano de Castilho, in dessen Haus er seit Kindertagen weilte. Dort wurde er erstmals mit der Frage einer Volksbildung betraut. Später, in seiner Zeit in Coimbra als Student der Rechtswissenschaften, fällt er nicht nur wegen seiner Größe auf; er hält eine Rede in Anwesenheit des italienischen Thronfolgers Humberto, bringt eine sozialistische Studentenzeitschrift- die wohl erste in Portugal in dieser Form- heraus, die sich leider nur über ein paar Nummern retten kann, wird Kopf mehrerer revolutionärer studentischer Geheimbünde, am bekanntesten sicher "Raio" (Strahl) und stellt sich an die Spitze der größten Kulturrevolution, die das kleine iberische Land bis dato gesehen hatte: Die als "Schule von Coimbra" bekannt gewordene Intellektuellenvereinigung wollte eine echte Revolution auf dem Gebiet des Geistes und der Kultur. Alles alte, traditionelle, Konservative und rein nationale wollte man ein für alle Mal über Bord werfen. Die Götter portugiesischer Literaturgeschichte- Nationaldichter Camoes, Reiseheld Fernao Mendes Pinto, Barockprosaist und Jesuit Antonio Vieira, aber auch die neueren Heroen der portugiesischen Romantik, der Dramatiker Almeida Garrett, die Dichter Alexandre Herculano und sogar Anteros Freund Antonio Castilho sollten entstaubt werden und aus dem akademischen Bereich verschwinden. Man wollte sich europäischen- vor allem britischen, französischen und deutschen Autoren öffnen und sich erneuern, seinen Geist erweitern, um dem Land dienlich zu sein. Auch öffnet sich dieser Autorenkreis, zu dem auch der spätere Literaturwissenschaftler und erste Präsident der Portugiesischen Republik, Teofilo Braga und Eca de Queiros, ein von Nietzsche sehr geschätzter Romancier, gehörten, dem Paniberismus, einer Ideologie, die eine Vereinigung Spaniens und Portugals zu einer Nation anstrebte, hier allerdings auf Kosten Spaniens bzw. mit der Führungsabsicht Portugals.

Sozialist, Arbeiter und Akademiker- wie man alles unter einen Hut kriegt

Quental sah sich als Sozialist, der begeistert die Werke von Marx und Engels gelesen hatte und dem Unrecht gegen Schwache sein ganzes Leben ein Gräuel war. Nur so kann auch erklärt werden, warum er sein Erbe ausschlug und stattdessen nach Paris ging, um dort als einfacher Arbeiter zu wirken. Man muss ich vorstellen, dass Quental zur Aristokratie des Landes gehörte, seine Familie stellte seit dem 17. Jahrhundert regelmäßig bedeutende Hochschulprofessoren, sein Vater war Großgrundbesitzer, scherzeshalber sagte man, die Hälfte der Azoren gehöre der Familie Quental. Und der älteste Sohn macht nichts anderes, als dieses Erbe auszuschlagen. In Paris arbeitet er hart als einfacher Arbeiter, sehr hart, er sieht mit eigenen Augen das Elend der Arbeiterschaft, dass ihn tief berührt. Das verändert ihn endgültig: in seine Heimat zurückgekehrt, gründet er Arbeitervereine, die ersten in Portugal überhaupt, ein Arbeiterparlament und in seinen „Odes Modernas“, seinen modernen Oden, kämpft er auch literarisch für soziale Verbesserungen, viele Gedichte drehen sich um die Frage der Arbeiterschaft, aber auch um Soziale Gerechtigkeit, Internationalismus und Kosmopolitismus. Der menschenscheue, introvertierte, phantasie- und hochbegabte Dichter lebt fortan von den Menschen zurückgezogen in einem Haus bei Vila do Conde- die Städte Paris und Lissabon waren ihm zu groß, er mochte keine Großstädte. Schon als Student hatte er jeglichem Luxus abgeschworen: so hatte er auf seiner Mansarde nur ein Bett, Tisch, Stuhl, Schrank und Bücher, sein einziger Luxus. Der Scheck der Eltern ging regelmäßig zurück nach Ponta Delgada. Auch in seinem Haus in Vila do Conde lebte er sehr spartanisch, die bediensteten leistete er sich nur, damit der zeitlebens unverheiratete Sozialist stets seine Arbeit machen konnte und den für ihn leidvollen Aufgaben des Alltags, denen dieser Willensschwache Mann nicht gewachsen war, von ihm fernhielten. Er zahlte außerordentlich gut und war dermaßen korrekt zu seinen Angestellten, dass ihm auch andere Bedienstete nicht so netter Herrschaften die Bude einrannten, in der Hoffnung, einen Job bei ihm zu erhalten.

Später adoptierte er zwei Kinder, die von einem Jugendfreund stammten, der verarmt verstorben und dem die Ehefrau weggelaufen war und versuchte so, diesen beiden Mädchen eine Chance zu geben. Erst kurz vor seinem Tod brachte der die Kinder zu einer Pflegefamilie, damit diese dort weiterleben konnten ohne ihren geliebten Pai.

Dann machte Quental ein Jahr vor seinem Tod einen Fehler, dem ihn so mancher Sozialist nicht verzieh: er lies sich- unabsichtlich- vor den Karren des Staates und der konservativen Reaktion spannen. 1890 stellte England Portugal ein Ultimatum, aus Rhodesien und Botswana seine Truppen abzuziehen, allenfalls gäbe es Krieg. Die Diplomatie, der König, die Regierung- alle hatten versagt, um eine angemessene Reaktion zu geben, die Armee lag am Boden, das Land vor einem Staatsbankrott (das gab es also schon damals und nicht erst heute). Man suchte eine unabhängige, neutrale Person, die die Nation kannte und schätzte und die Menschen, vom Arbeiter bis zum Professor, einig zur Verteidigung und zum Zusammenhalt aufrufen konnte. Einer schlug Quental vor, der als Revolutionär bekannt war und im ganzen Land geschätzt wurde. Dieser weigerte sich, doch die Reaktion schickte 800! Studenten vor sein Haus, die die ganze Zeit- stundenlang- „Viva Quental, Viva Portugal“ skandierten und den hochschüchternen Mann baten, auf den Balkon zu treten, was dieser auch kurz machte und winkte um dann schnell und verschämt wieder zu verschwinden. Man dient ihm den Titel des „Presidente do Liga Patriotico do Norte“ an, den er gar nicht haben wollte und den er – er war sichtlich froh darüber- einige Wochen später wieder verlor, da man einen Überfall auf den englischen Konsul in Porto gemacht hatte und just alle patriotischen Vereinigungen verboten wurden.

Die obige Szene hatte Quental gezeigt, wie schnell man auch als Linker vor den Karren anderer Weltanschauungen gespannt werden konnte, was ihn die restliche Zeit, die ihm noch blieb, vorsichtiger machte. Doch die Monate, die er noch hatte, waren geprägt von Depression, von Melancholie, von Lebensekel und Lebensüberdruss, eines Mannes, der oft stundenlang mit der Beobachtung von Wolken oder am Strand sitzend mit der Beobachtung des Meeres verbrachte.

Trauriger Tod und Bedeutung einer exzentrischen Gestalt

Am 11.09.1891 ging er- nachts- mit einem Revolver bewaffnet, an den Campo de Sao Francisco, einem öffentlichen Park und setzte sich auf die Parkbank. Obwohl er –auch in der Arbeiterschaft- sehr bekannt war, erkannte ihn offenbar niemand. Er setzte den Revolver an und schoss sich in den Mund, doch der Schuss durchschlug nicht das Hirn, wie er es erwartet hatte, sondern die Nase und so setzte er ein zweites Mal an. Diesmal verletzte die Kugel das Hirn, aber Quental war nicht sofort tot, er kam ins Hospital, wo er nach zwei Stunden Todeskampf und unsagbaren Schmerzen starb.

In Deutschland war Quental am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in Gewerkschaft- und Arbeiterkreisen bekannt. Doch weder seine Lyrik, die von Wilhelm Storck übersetzt wurde, noch seine Ideen im Bezug auf die Arbeiterschaft (z.B. Arbeiterparlament, ohne akademisierte Arbeiter) wurden hier angenommen. Der wunderbaren, 1959 verstorbenen Autorin Klara Rumbucher ist die einzige, kleine Monographie von Quental in deutscher Sprache zu verdanken. Quental, der literarisch zwischen Luis Vaz de Camoes (1524 bis 1580) und Fernando Pessoa (1888-1935) steht, könnte auch hier in Deutschland wiederentdeckt werden. Vielleicht traut sich ja der Freitag, in seinem Feuilleton einen Artikel zu? Quental hätte sich sicher darüber gefreut…

Ende.

29.09.2013

Anmerkungen:

1.) Das Buch von Klara Rumbucher (Klara Rumbucher: Antero de Quental, aus dem Nachlass, 1968, Max-Hueber-Verlag) ist nur noch antiquarisch zu erhalten.

2.) Wilhelm Storcks Übersetzungen der Sonette und Oden von Quental „Anthero de Quental: Ausgewählte Sonette von Anthero de Quental“, 1887.

3.) Der deutschsprachige Wikipedia-Artikel über Quental stammt von mir und kann vielleicht noch als verlängerter Arm dieses Artikels wirken, um weitere Infos über den Autor einzuholen, wenn gewünscht.

4.) Der Einlass mit dem Freitag ist auf Quentals Leistung als Sozialist und Sozialreformer bezogen, nicht so sehr als Begründer portugiesischer Arbeiterlyrik. Meines Erachtens ist es interessant, die Frage zwischen den heutigen, prekären Verhältnissen portugiesischer Arbeiter und (Büro)Angestellter zu fragen im Zuge der Finanzkrise und der Durchschlagskraft der Theorien und Ideen, die Quental in diesem Bereich für sein Land hatte, was Arbeitgeber dort z.B. umsetzten bzw. später (auch im Zuge der Finanzkrise) wieder abbauten.

5.) Der Satz aus der Überschrift, sprich das Lemma, war ein Satz aus einem Brief, den Quental an einen seiner zahlreichen Freunde gesandt hatte. Das korrekte Zitat heißt (aus Platzgründen etwas verändert: "Es ist ein unendlicher Widerwille gegen die Vergangenheit".

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