Die Soziologen des Pop

Pop-Musik Seit Jahrzehnten machen die Pet Shop Boys Musik. Bis heute bleiben sie aber ein Mysterium.

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Schwarz-weiß sieht man Füße, eine einfahrende U-Bahn, einen jungen Mann mit Anzug und MP3 Player, einen einsam in die ferne guckenden Mann. Und wo ist das alles? In Berlin. Das pralle Leben in der Bundeshauptstadt. Und was hat das alles mit den Pet Shop Boys zu tun? Sehr viel. Diese Bilder stammen aus einem Clip zum Song "Leaving", den ein Hardcorefan der Gruppe so gut geschnitten und erstellt hat, dass es das offizielle Video der PSB zu dem Song sein könnte. Und es verrät viel über die Musik der beiden Jungs, die zu dem seltsamsten Gehört, was die britische Popmusik neben Holly Johnson, über den ich ebenfalls schon einmal berichtete, nach dem Zweiten Weltkrieg hervorbrachte.

Zwei Studenten im Elektroladen

Das echte Freundschaften oft auf sehr ungewöhnlichen Wegen entstehen, zeigt sich bei den beiden Musikern: Sie lernten sich in einem Elektroladen kennen. Sie merkten schnell, dass sie die gleiche Affinität zur gleichen Musik hatten, dass beide kreative Menschen waren und beide der gleichen Liebe angehörten. Eine Freundschaft fürs Leben war entstanden.

Die beiden Jungs hatten Mitte der 1980er Jahre, die heute wie das 19. Jahrhundert wirken, -so weit sind die 1980er Jahre vom Jahr 2015 schon entfernt- erste Erfolge. Songs wie "Paninaro 85" oder "West End Girls" kann man heute durchaus als Hymnen einer Zeit lesen, in der die Videos bunt, die Texte alternativ und die Sänger unnahbar waren. Fast jeder Song aber und fast jedes Video hat einen eigenen Stempel, ist niemals gleich, nicht zu vergleichen mit den Popsternchen unserer Zeit, die sich mit leichtbekleideten Damen und Herren in irgendwelchen balleteusen Videos räkeln, nein, die Pet Shop Boys erzählten Geschichten, ja fast Märchen. In ihren Videos fanden sich Welten, innere Welten, die es zu entdecken galt. Ja, es war fast Literatur, was die beiden geschaffen haben. Es waren die urbanen Träume einer Jugend, die noch nicht ganz emanzipiert, aber auch nicht mehr ganz unterdrückt war. Man stellte die Fragen, die die Menschen bewegten. Geht man einzelne Videos und Songs durch, entdeckt man die soziologischen Komponenten:

In "West End Girls" in einem Raglan-Mantel herumlaufender junger Mann, der mal in Mitten der Masse der Menschen ist, mal ganz alleine steht und immer melancholisch in die Kamera schaut, wie immer begleitet von seinem stillen, stummen und wortlosen Freund, Chris Lowe. Oder "Heart", ein junges Paar auf Hochzeitsreise und Sir Ian McKellen als aus dem Sarg erscheinender Vampir, der die junge Dame dem bittersauren Bräutigam abspenstig macht. Das ist genial, dass ist Kunst! Oder "Suburbia", die Hymne an die Vorstädte, an die Einfamilienhäuser der kleinen Leute und der damit immanenten Frage: Was passiert hinter der Fassade dieser Vorstädte? Wer badet im Pool? Welche Boys sitzen auf der Couch? Und in "Rent" hat die superreiche Madam genug vom Leben der High-Society und deren Dekadenz, sie will lieber zu ihrem Lover aus dem einfachen Volk. "What I have done to deserve it", die Hymne an das Theater, an das Ballett, bunt, schrill und melancholisch. Dusty Springfield mit ihrem vielleicht wichtigsten Auftritt. Selbst hier stellt sich die Frage: Was ist Theater, was ist Kunst? Liebe, Frauen, Musik (Sex, Drugs and RocknRoll). "Opportunities": Neil Tennant als chassdischer Jude, Fernando-Pessoa-Double oder als Bankräuber? Es ist dem vom Nebel ganz durch und durch verwirrten Zuschauer zuletzt selbst überlassen, zu sehen, was er denkt. Das für mich aber genialste Video von allen ist: "Being Boring". Nach außen eine Parade der Fröhlichkeit, schöne junge Menschen, die Spass und Party haben, vor einem ernsten Hintergrund: der Vergänglichkeit allen Lebens, der Jugend, der Schönheit, sprich: DEM TOD. Und das in der Hochphase der Aidsära, wo mehr junge Männer starben, als wahrscheinlich in den gesamten 1990er Jahren zusammen. Schwarzweiß, kann einem schon das Intro eine Gänsehaut einhauchen, mit leichter Melancholie singt er von berühmten Schriftstellern, denen man in weiß gekleidet begegnet, in den 1920er, 1970er oder 1990er Jahren, eine androgyne Frau führt ein Pony rein, in eine Villa, die an die 1920er Jahre erinnert, an Filme von Kenneth Anger oder Jean Cocteau. Alles ist zeitvergessen, nichts scheint real, nichts surreal. Ein Affe fährt Rollschuh, ein junger Mann fällt vom Stuhl, wohl aus Müdigkeit oder hat er einen tödlichen Herzinfarkt? Ein junger Schwarzer, wie Langston Hughes aussehend, tanzt auf der Treppe und doch scheint es in diesem Chaos nur eines zu geben: Die Frage, ob es auch in Parties eine Art Sehnsucht des Menschen nach dem Sinn der Welt gibt? Die Frage der Pet Shop Boys in ihren Videos lautet: Das Schöne gibt es, es ist ein Teil des Lebens, es ist aber auch immer Mysterium. Du musst es entdecken, aber es zeigt sich nicht immer so schnell.

Die Soziologen des Pop

Die PSB zeigen alles in ihren Videos: Obdachlose, die ihnen gerade vor die Linse laufen, die Dekadenz des Bürgertums, die Tristesse der Vororte, schöne Menschen, Liliputaner, Schwarze, Weiße, Asiaten, Außenseiter und Exzentriker... Na und, werden viele einwerfen, dass machen andere auch. Aber die PSB machen es eben anders, man kommt zum Nachdenken, zum Staunen, nie ist ein Video so wie das vorherige, man wird oftmals überrascht. Keine Scheu, man zeigt den Menschen, wie er ist, hässlich, schön, alles, weil man es sich als PSB leisten kann. In einem Video sieht man die beiden gefesselt und von zwei Behinderten dargestellt (I am with stupid), in "Yesterday" auch die berühmten englischen Exzentriker, die heute noch mit Melone oder Zylinder durch London laufen. Der Mensch ist Mittelpunkt der Videos und Songs, der Mensch in Perfektion und der Mensch in Unvollkommenheit. Das scheint das wirklich große zu sein, was die PSB für die Popmusik gemacht haben. Sie haben vieles in den Mainstream gezogen, was für andere Sänger gar nicht existiert. Gänsehaut kann bekommen, wer den stummen Chris Lowe und den singenden Neil Tennant live sieht. Nach jedem Konzert verabschieden sie sich mit dem einfachen, aber doch gewaltigen Satz: "My Name ist Neil Tennant and this is Chris Lowe and we are the Pet Shop Boys". Schlichter, einfacher geht es nicht mehr. Und doch eine große Aussage: Zwei Menschen, gleichberechtigt auf der Bühne wie im Leben, verschmolzen zu einem einzigartigen Projekt. Jedes Video, jeder Song hat eine Botschaft, keiner ist nur reine Unterhaltung: Reichtum und Dekadenz (Rent), die Scheinheiligkeit der katholischen Kirche (Its a sin), Yesterday, when I was mad (Exzentriker und deren häufiges Ende in der Klapse), Hearts (die Furcht des Menschen vor dem Vampir ergo dem Bösen), Suburbia (die Langeweile in der Vorstadt), West End Girls (die Liebe vom reichen Girl und dem armen Boy oder umgekehrt), Being Boring (Mal so richtig feiern, aber dann ist das Leben nur noch melancholisch, leer danach) etc.

Vor den PSB und danach gibt und gab es keine vergleichbare Gruppe. Beide haben Akzente in der Popmusik gesetzt, die zwar nicht zu kreischenden Fans geführt hat, aber zu Musik, die sehr an der Frage nach dem Leben und dem Sein heranreicht. Dazu zählt auch, dass beide zurückgezogen leben und man eigentlich vieles weiß und doch gar nichts. Das ist und bleibt aber das Geheimnis der Pet Shop Boys. Sonst wäre es ja langweilig und das sind sie niemals und werden sie niemals sein. Ihr Geheimnis ist in jedem Song, jedem Video zu sehen. Und das macht sie so groß: Pet Shop Boys eben.

Ende.

27.12.2015

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