Bist Du nicht friedlich, so brauch ich Gewalt

Kampf gegen Terror Ein nachhaltige Stärkung der Werte Europas gegen den Terror kann nur durch Überzeugung, nicht durch Gewalt gelingen

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Protest in Paris gegen die Todesstrafe
Protest in Paris gegen die Todesstrafe

Foto: Mehdi Fedouach/AFP/Getty Images

Wie sollen wir, wie soll Europa, auf die Anschläge in Frankreich und Dänemark, auf den medial allgegenwärtigen Terror von ISIS, Al-Qaida und anderen reagieren? Demonstrationen gegen Extremismus sind wichtig für die Identität einer Gesellschaft nach innen und außen, aber reicht das aus, und steckt nicht oft viel Schein und weniger Sein dahinter? Eine Verschärfung der Sicherheitsgesetze mag den ein oder anderen von Anschlägen abhalten, ist aber auch geeignet, Menschen erst Recht aggressiv zu machen und in die Rolle von Extremisten zu drängen. Allgemein scheinen die gegenwärtigen Antworten Europas auf die Herausforderungen, die der Terror an uns stellt, eher symbolisch und zur oberflächlichen Beruhigung von Angst und Wut zu sein. Von einem Verstehen des extremistischen Terrors und von einem Willen zur auch kraftraubenden und schmerzhaften Selbstanalyse, die Hoffnung auf nachhaltigere, tiefere Veränderungen und Minimierung des Terrors machen könnte, scheint Europa jedoch noch weit entfernt zu sein.

Zunächst gälte es, die Bedrohung durch den Terror, soweit es möglich ist, ins rechte Maß zu setzen. Die Terroristen haben die Macht der Bilder in Internet und Massenmedien für sich entdeckt, was dazu führt, dass unsere Wahrnehmung durch die tägliche mediale Konfrontation mit der Gewalt erheblich von der Realität abweichen kann. Wir empfinden die Bedrohung durch den weltweiten Terror als immer größer, aber ist sie das wirklich? Und fast zeitgleich mit dem Attentat von Paris sind in Nigeria mutmaßlich hunderte Menschen von Boko Haram ermordet worden. Die Gefahr, in Europa Opfer eines terroristischen Anschlages zu werden, scheint dagegen nach derzeitigen Erkenntnissen gering im Verhältnis etwa zur Gefahr, im Straßenverkehr oder durch eine Krankheit umzukommen. Das muss jedoch nicht so bleiben, und jeder Anschlag ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine unfassbare Tragödie. Wie also sollte Europa auf den Terror reagieren, wie ihm vorbeugen?

Nicht jeder Nazi lässt sich bekehren

Der Terror, das wird aus fast allen politischen und gesellschaftlichen Richtungen immer wieder betont, ist auch ein Angriff auf unsere gemeinsamen europäischen kulturellen Werte und Normen. Wir wenden keine Gewalt gegen Unschuldige oder Ungefährliche an, heißt es, und schon gar nicht töten wir Unschuldige. Diese Standards, die Europa hinsichtlich der Anwendung von (staatlicher) Gewalt erreicht hat, nun in der Auseinandersetzung mit dem Terror wieder abzusenken, wäre genau der falsche Weg. Wenn wir wieder, wie das derzeit z.B. in Frankreich als Reaktion auf die Attentate verstärkt gefordert wird, die Todesstrafe einführten, wenn wir Grundrechte immer stärker zugunsten einer (Schein-) Sicherheit einschränken, würde das „unter dem Strich“ keine Gewalt vermindern, sondern Aggression und Gewalt schüren. Unser Ziel muss es sein, unseren Normen zur Anwendung von Gewalt breitmöglichst Geltung zu verschaffen. Normen sind aber nur dann nachhaltig wirksam, wenn sie von der Überzeugung der Menschen getragen werden. Eine zwangsweise Durchsetzung von Normen durch staatliche Instanzen kann eine Norm stärken, aber nicht begründen. Wie aber sollen wir andere von unseren Werten und Normen überzeugen? Jeden Kopfabschneider von ISIS werden wir sowenig überzeugen können, wie wir bei uns jeden Terroristen oder jeden Nazi überzeugen können, der Flüchtlingsheime anzündet. Aber wir können versuchen, möglichst viele unter uns, andere Staaten, andere Gesellschaften zu überzeugen.

Einige Gesichtspunkte sind dabei von besonderer Bedeutung: Eine Übernahme von Normen erfolgt ganz wesentlichen auf Basis einer Identifikation mit Menschen, die nach diesen Normen leben. Wenn wir also wollen, dass andere Menschen sich mit uns und unseren Werten identifizieren, müssen wir nach innen Menschen verschiedenster Herkunft und aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten integrieren und nicht aus- oder abgrenzen. Das bedeutet nicht die Auflösung menschlicher Vielfalt und individueller Besonderheiten, aber eine gemeinsame Identität als „Mensch“ muss deren Basis sein. Auch nach außen sollte Europa daher im Grundsatz offene Arme zeigen und nicht nur solche Menschen aufnehmen, die von Nutzen sind oder bei denen es aus humanitären Gründen gar nicht anders geht.

Einhaltung der Normen lohnt sich

Wut, Angst und fehlende positive Entwicklungsmöglichkeiten sind der Nährboden für Terror und Gewalt. So sehr wir zu Recht die Anschläge und Gräueltaten von Terroristen verabscheuen, wir müssen doch versuchen nachzuvollziehen, warum sie so ticken, und uns fragen, welchen Anteil die gesellschaftlichen Verhältnisse, welchen Anteil wir daran haben. Nutzen wir die billigen Arbeitskräfte anderer Länder aus? Tun wir alles Leistbare um Flüchtlinge bei uns zu integrieren? Bemühen wir uns um einen gerechten Umgang mit Ressourcen? Respektieren wir grundsätzlich z.B. andere religiöse Werte? Nur wenn wir uns selbst kritisch hinterfragen, und uns bemühen, die durch Wut und Angst Geleiteten zu verstehen, ohne wohlgemerkt für ihre Taten Verständnis zu haben, dann haben wir die Chance, sie auch von unseren Werten zu überzeugen. Nur wenn sich die Wütenden verstanden fühlt, können sie die Bereitschaft aufbringen, uns zu verstehen.

Auch sollten wir vermitteln, dass es sich lohnt, unsere Normen einzuhalten. Gruppierungen, in denen Gewalt, deren Sinn nicht in der Verhinderung eines sonst größeren Schadens liegt, zur Norm gehört, schädigen sich auf Dauer selbst am meisten. Dies wiederum können wir nur dann überzeugend vertreten, wenn wir es in Europa auch konsequent einhalten. Auch wir kennen jedoch die Gewalt mit dem Ziel der Zufügung von Leid: Vergeltung ist z.B. der Kern jeder Strafe. Demjenigen, der Unrecht getan hat, soll Leid geschehen, damit das Unrecht vergolten wird. Dieser Sinn von Gewalt ist vergangenheitsorientiert. Er wird zwar durch präventive Erwägungen wie Abschreckung ergänzt, aber eben nicht begründet und beschränkt. Er mutet religiös an, kann den auch in staatlicher Gewalt liegenden vernünftigen Sinn torpedieren und funktioniert auf sozialer Ebene oft nicht. Wer etwa zehn Jahre in Haft verbracht hat, wird meist nicht wieder auf Augenhöhe in die Gesellschaft aufgenommen, vielmehr kann gerade die Haft, also die Vergeltung, zum Makel werden.

Vergeltung um der Vergeltung Willen

Dass Vergeltung außenpolitisch in eine Spirale der Gewalt mündet, ist im nahen Osten seit vielen Jahren zu beobachten. Menschen zu einem sozial verantwortlichen Leben zu bewegen und sie möglichst davon abzuhalten Andere zu schädigen sind alles dem Grunde nach legitime und vernünftige Rechtfertigungen staatlicher Gewaltanwendung nach innen und außen. Vergeltung um der Vergeltung Willen jedoch ist ein Relikt, das zwar in der Entwicklung des Menschen von evolutionärem Nutzen war. Diejenigen Gruppen, die sich bei Gewaltanwendung rächten, wurden weniger oft angegriffen und hatten daher größere Überlebenschancen. Heute und bei den bestehenden staatlichen Strukturen können wir dieses evolutionäre Relikt aber vernünftig reflektieren und Gewaltanwendung auf die Fälle und das Maß beschränken, das zur Abwendung eines sonst größeren Schadens erforderlich ist. Ein Verzicht auf Vergeltung muss man sich leisten können, eine Gesellschaft etwa im Bürgerkrieg ist weit davon entfernt. Wir in Europa könnten es uns leisten. Das wäre eine große kulturelle Errungenschaft, eine Stärkung unserer Normen und ein deutliches Zeichen an die Welt gegen sinnlose Gewalt. Und nur wenn wir selbst auf solche Gewalt verzichten, eigene Ursachen für Gewalt hinterfragen und andere auch in ihrer zum Teil berechtigten Angst und Wut verstehen, können wir diese vom Wert des Verzichts auf Gewalt überzeugen.

Dr. Thomas Galli

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