Der Böse, der Kranke, der Schuldige und wir

Germanwings-Tragödie Der fundamentale Irrtum unseres Denkens im Umgang mit Katastrophen

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Der Absturz der Maschine A320 den französischen Alpen ist für die Opfer und die Hinterbliebenen furchtbar. Die Möglichkeit und damit zum Teil auch die Pflicht, ihnen zu helfen, haben nur wenige. Auch haben nur wenige das Sachwissen und den Gestaltungsspielraum für strukturelle Anpassungen des Luftfahrtverkehrs in Konsequenz dieser Katastrophe. Bei fast allen von uns aber löst die massenmediale Berichterstattung über das Unglück starke Gefühle von Angst, Trauer, Wut und Mitgefühl aus. Um die künftige Gefahr derartiger Katastrophen möglichst weiter zu reduzieren, und nicht durch kopfloses Handeln vielleicht sogar zu vergrößern, ist es wichtig, auf einer gesellschaftlichen Ebene diese Gefühle und unseren Umgang mit solchen Unglücksfällen kritisch zu reflektieren.

Ganz offensichtlich beginnt bei jedem Unglück die fast panische Suche nach den Ursachen. Es scheint uns fast noch wichtiger zu sein, zu verstehen, warum etwas passiert ist, als uns um die zu kümmern, die Schaden genommen haben und der Hilfe bedürften. Bei der Bildung einer Kausalkette, an deren Ende das Unglück steht, scheint es uns am meisten zu befriedigen, wenn an deren Anfang ein Mensch steht, dem die Schuld für das Geschehen zugewiesen werden kann. Momentan ist das im Fall der Germanwings-Maschine der Co-Pilot. Genauso wäre es denkbar, einen Fluglotsen ausfindig zu machen, der nicht richtig reagiert hat, einen Flugzeugtechniker, der eine Schraube falsch montiert hat, den Zuständigen einer Behörde, die das Flugzeug fälschlicherweise zugelassen hat, einen Fliegerarzt, der den Piloten fehlerhaft als flugtauglich eingestuft hat usw. Wenn dann ein Schuldiger gefunden wird, geht die Suche weiter nach dem, was sich in seinem Kopf abgespielt hat. Wie und warum tut jemand so etwas? Mit der Erklärung Krankheit oder bösem Willen endet dann in aller Regel unsere Neugier, dann können wir das Geschehene gedanklich einordnen.

Hinter all dem steckt unser zutiefst menschliches und soziales Bedürfnis, unserem Erleben einen Sinn zu geben und unsere sonst übermächtigen Gefühle von Wut und Angst beherrschen zu können. Das Gefühl, unsere Welt verstehen und erklären (und damit auch gestalten) zu können, ist von existenzieller Bedeutung für unseren Selbstwert. Alles verstehen und erklären kann allerdings keiner. Wir begnügen uns daher notwendigerweise mit stark vereinfachten und verkürzten Erklärungen der Wirklichkeit. Besonders gut lässt sich dies an unserem Umgang mit Menschen zeigen, von denen wir ausgehen, sie hätten anderen Schaden zugefügt. Wenn ein Schuldiger gefunden ist, der noch lebt, kann ein Teil der Wut an ihm ausgelassen, ein Teil der Angst durch sein Einsperren gelindert werden. Wenn der Schuldige tot ist, droht die Wut sich allerdings ins Unendliche zu steigern, gespeist auch von dem Gefühl, das Unglück hätte (anders als ein durch Naturgewalt hervorgerufenes) vermieden werden können, hätte sich der Täter nur anders entschieden.Was genau die Ursachen des Absturzes der A 320 waren, kann noch nicht gesagt werden, und wird so ganz wohl nie gesagt werden können. Dass der Co-Pilot aber psychisch krank war und dies ursächlich für den Absturz war, scheint vielen bereits als feststehend. Und selbst, wenn es so wäre, wäre dies nicht annähernd eine monokausale Erklärung der Tragödie. Gab es übermäßig beruflichen Druck auf die Piloten? Hat der betroffene Pilot ausreichend Hilfe im Umgang mit seiner Krankheit bekommen? Was waren die Ursachen der Krankheit? Was war der Auslöser, sollte er tatsächlich das Flugzeug bewusst zum Absturz gebracht haben? In der psychologischen Forschung ist der sog. fundamentale Attributionsfehler gut dokumentiert. Danach suchen wir entgegen jeder Logik die Ursachen für eigenes Verhalten verstärkt in der Umwelt, während wir die Ursachen für das Verhalten Anderer in erster Linie in diesen und ihrer Persönlichkeit selbst verorten. Wir fordern von Anderen Empathie ein, und wissen doch selbst, wie schwer wenn nicht gar unmöglich es ist, noch Mitgefühl für Andere aufzubringen, wenn es einem selbst sehr schlecht geht.

Um uns als Gesellschaft fortzuentwickeln und damit auch furchtbaren Ereignissen wie dem Absturz der Germanwings-Maschine noch einen positiven Sinn abzuringen, sollten wir uns bewusst machen, dass wir die „Wirklichkeit“ mit vereinfachten Erklärungen zeichnen, und auch dazu neigen, sie anhand vereinfachter Rückschlüsse zu gestalten. Dieser positive Sinn kann nicht darin liegen, Menschen, die an Depressionen und anderen psychischen Problemen leiden, entgegen den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Kriminologie für gefährlicher oder unverantwortlicher als andere Menschen zu halten. Gerade in depressiven Phasen trägt man doch oft genau das Schuldgefühl und die Aggressionshemmung in sich, die die Gesellschaft Straftätern mit Gewalt „einimpfen“ will. Die seltenen nach innen oder außen gerichteten Aggressionsdurchbrüche sollten trotz ihrer oft tödlichen Folgen nicht als Begleiterscheinungen jedes psychischen Problems verallgemeinert werden. Was also soll es Positives bewirken, wenn nun die Psyche und Persönlichkeit „des Täters“ an den öffentlichen Pranger gestellt wird? Natürlich muss bei verantwortlichen Tätigkeiten wie dem Führen von Passagierflugzeugen auch die persönliche Eignung geprüft werden, aber eben mit Augenmaß und auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sonst wird einer Stigmatisierung und Ausgrenzung von Menschen Vorschub geleistet, die mit psychischen Erkrankungen kämpfen. Und was die Familie des Co-Piloten derzeit durchmachen muss, mag man sich kaum vorstellen. Das alles ist wohlgemerkt die Folge, ohne dass einem Opfer oder einem Hinterbliebenen damit geholfen wäre. Man kann ungefähr erahnen, wie sich die öffentliche und politische Stimmung entwickeln würde, wenn der Co-Pilot noch leben würde, und ein Anhänger von Al Qaida wäre.

Letztlich verhindert ein zu emotionsgesteuerter und reflexhafter Umgang mit Katastrophen verbunden mit unserer Neigung zur Schuldzuweisung eine auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wünschenswerte positive Fehlerkultur. Wenn jeder, der beim Betrieb von Flugzeugen oder in anderen verantwortungsvollen Bereichen Fehler gemacht hat, Angst haben muss, dafür mit Schuld beladen und gebrandmarkt zu werden, wird die Versuchung steigen, selbst gesetzte Ursachen zu verschleiern und andere zu betonen. Überhaupt wird die Bereitschaft, echte Verantwortung für Andere zu übernehmen, desto stärker abnehmen, desto größer die eigenen Nachteile dann sind, wenn etwas schiefläuft. Auf diese Art werden nicht die kompetentesten Menschen von verantwortungsvollen Tätigkeiten angezogen, sondern solche, die nichts anderes finden oder denen Macht über alles geht. Selbstverständlich müssen wir Einzelne für Fehlverhalten in die Verantwortung nehmen und auch zukunftsorientiert bestrafen. Mit unserer Tendenz zur übermäßigen Schuldzuweisung und Ausblendung komplexerer Zusammenhänge schaden wir uns letztlich aber allen selbst. Der Co-Pilot kann nicht mehr in die Verantwortung genommen werden, auch posthum sollte nicht voreilig und vernichtend über ihn geurteilt werden. Es gibt schlechte Taten und gute Taten, aber kein Mensch begeht nur schlechte oder nur gute Taten. Daher sollte auch niemand als schlechter Mensch verteufelt oder als guter Mensch idealisiert werden.

Das schreckliche Unglück von Flug Nummer 4U9525 zeigt: Die meisten Menschen sind empathisch, sie trauern um die Opfer und mit den Hinterbliebenen. Das ist gut. Wirklich hilfreich in dem Sinne, dass die (ohnehin geringe) Wahrscheinlichkeit solcher Unglücksfälle weiter reduziert wird, ist es aber, den Mitmenschen ganz konkret im Alltag mit mehr Empathie zu begegnen. Das bedeutet, nicht angst- oder wutgesteuert Einzelnen die alleinige Verantwortung zuzuweisen und sie leichtfertig als böse oder krank abzustempeln, um selbst leichter mit Problemen, Unglücksfällen und Bedrohungen umgehen zu können. Es bedeutet auch, Menschen mit psychischen oder sonstigen Problemen mehr Geduld entgegenzubringen, weniger Druck auf Andere auszuüben, solidarischer zu sein mit Menschen denen es schlechter geht, und eigene Anteile an schädigendem Verhalten Einzelner zu hinterfragen. Leistungsdruck, Profitmaximierung, Konkurrenzkampf, das alles sind gesellschaftliche Kräfte, zu deren unheilvoller Wirksamkeit wir fast alle beitragen, und die auch mit eine Rolle spielen, wenn Einzelne straffällig oder psychisch krank werden. Auch die Erkenntnis, dass menschliches Verhalten eine Vielzahl von inneren und äußeren Ursachen hat, und daher auch niemals sicher prognostiziert oder gar gelenkt werden kann, folgt aus dem Verständnis für die Individualität und Selbstbestimmtheit jedes Menschen.

Empathie in dieser Form ist anstrengend, aber sie lohnt sich, denn von ihr profitierten wir letztlich alle.

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