Deutschland, wie hast Du's mit der Moral?

ISIS Wie der IS-Terror die deutsche Moral in Frage stellt, und warum die Frage nicht Mutti oder der breiten Masse überlassen werden darf.

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Bei der derzeitigen Diskussion um die Frage, wie dem IS-Terror zu begegnen ist, und welche Rolle Deutschland dabei spielen sollte, dürfen wir der grundsätzlicheren Frage nicht ausweichen, die uns insbesondere durch die medial zur Schau gestellten furchtbaren Enthauptungen Unschuldiger eindringlich gestellt wird: wie haben wir Deutschen es mit der Moral?

Denn neu ist es nicht, dass in der Welt millionenfach Unrecht und Leid geschieht, und auch die öffentlich inszenierten Enthauptungen Unschuldiger zur Provokation des Westens sind, wie die Enthauptung des amerikanischen Journalisten Daniel Pearl 2002 in Pakistan zeigt, keineswegs nur eine aktuelle Problematik. Dieses Unrecht und Leid könnten wir längst sehen, wenn wir wollten. Bei jedem weiteren Geköpften verbleibt uns nun weniger Wahlfreiheit, es zur Kenntnis zu nehmen, zumal auch immer wieder Deutsche und Christen den Terroristen zum Opfer fallen. Wenn wir aber bei allem (notwendigen) Abwägen über Für und Wider von militärischer Hilfe und Intervention, über finanzielle und humanitäre Unterstützung im Grunde doch weitermachen wie gehabt, bedarf es keines Propheten um voraussehen zu können, wie die ISIS-Problematik enden wird: neben vielen Aggressoren werden viele Unschuldige umgebracht werden, neue Konfliktherde entstehen und alte werden nicht mit langfristiger Wirkung aufgelöst. In 5 Jahren werden dann die nächsten Unschuldigen enthauptet und die nächsten terroristischen Bomben auch im Westen gezündet. Wenn wir dies aber nicht wollen, wie soll es dann weitergehen, und wie kann die Rolle Deutschlands dabei aussehen?

Was wir bräuchten, um langfristig und nachhaltig dazu beizutragen, Unrecht und Leid möglichst zu minimieren, ist mehr als nur die ein oder andere kurzfristige Intervention, es ist eine neue Philosophie, ein neues deutsches Selbstverständnis, aufgebaut auf einer neuen Moral. Dabei alles auf „die da oben“ und die Politik zu schieben, greift viel zu kurz. Fjodor Dostojewskilässt seinen Großinquisitor in „Die Brüder Karamasow“ sagen, dass der Mensch die ihm auferlegte Freiheit, zwischen gut und böse zu entscheiden, nur zu gerne an Autoritäten weitergibt, die sein Gewissen beruhigen sollen. Aber wir müssen letztlich als Deutsche selbst entscheiden, wann sind wir gut, wann sind wir schlecht oder böse, was sollten wir tun, was sollten wir lassen? Solche existentiellen Fragen können wir nicht bei Mutti oder der breiten Masse abladen, jeder muss sich ihnen selbst stellen.

Konsens dürfte darin bestehen, dass wir von uns nicht verlangen können, alles an Wohlstand Erreichte wieder zugunsten Bedürftiger aufzugeben, da wir dann bald ebenso bedürftig wären. Nach Bertolt Brecht kommt erst das Fressen, dann die Moral, wir werden nie abgeben können, wenn wir dann selbst allzu spürbar an Lebensqualität verlieren. Auch könnte mit all unseren Ressourcen das Unrecht und Leid in der Welt nicht annähernd beseitigt werden.

So scheinen wir Deutsche uns als gut im moralischen Sinne zu verstehen, wenn wir uns und anderen keinen zu großen Schaden zufügen. Nach dem, was wir im „Dritten Reich“ angerichtet hatten, war dies nach innen und außen auch die zum Aufbau Deutschlands notwendige moralische Haltung. Inzwischen wird unsere Geschichte allerdings allzu oft dazu missbraucht, uns bei weltweiten Konflikten und Problemen herauszuhalten. Von einem Extrem sind wir ins andere gekippt. Auch gehört zum „sich als gut verstehend“, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Der Begriff des „uns“ gehorcht allerdings in erster Linie ökonomischen Gesichtspunkten. Bei wem die eigentlich zu leistende Unterstützung größer wäre als der zu erwartende Nutzen, der wird schnell von „uns“ zum „Anderen“. Und je mehr jemand zu den Anderen gezählt wird, desto oberflächlicher und kurzfristiger orientiert wird die Hilfe, und desto mehr gilt der Grundsatz „aus den Augen, aus dem Sinn“. Wenn wir unmittelbar mit der Behandlung und Unterbringung von Flüchtlingen konfrontiert sind, spielt deren Schicksal eine Rolle für uns, weniger aber, wenn diese zu Tausenden irgendwo ertrinken. Bei unseren Beiträgen zur Nothilfe bei der Bedrohung Unschuldiger durch ISIS wie der Ausbildung von Widerstandskämpfern ist, so wichtig wie diese Beiträge sein mögen, doch fraglich, ob sie nicht eher symbolisch und zur oberflächlichen Beruhigung des öffentlichen Gewissens geleistet werden. Wenn irgend möglich, weisen wir auf nationaler und internationaler Ebene die Schuld für schädigendes Verhalten Individuen zu und blenden komplexere soziale Umstände aus. Wenn wir auch bei Schädigungen Anderer wegsehen, Begründungen, uns selbst geschädigt zu fühlen, und Andere dafür zu bestrafen, werden wir immer finden, wie bereits Émile Durkheim festgestellt hat. Aber ist es wirklich moralisch vertretbar, erhebliche gesellschaftliche Ressourcen z.B. in die Bestrafung von Doping zu investieren, um uns an einem täuschungsfreien Leistungssport zu ergötzen, während zur gleichen Zeit, und nicht sehr weit entfernt, Tausende Unschuldige getötet werden? Und ist es wirklich bloß plumper Populismus festzustellen, dass wir viele Milliarden für die Rettung von Banken und Bankern ausgeben anstatt für humanitäre Zwecke? Ist unser Reichtum zum Teil nur unbestreitbar möglich auf Kosten der Armut anderer, einer Armut, die der beste Nährboden von Gewalt ist? Dass wir nicht nur über überschüssige finanzielle Ressourcen, sondern auch emotionale und psychische Energie verfügen, zeigt sich auch z.B. an unserem sozialen Eifer für den Profifussball. Und sitzen wir nicht oft in wohligem Schauer ob all des Unrechts in der Welt vor dem Fernseher und lassen uns durch militärische Beratung dort und Erhöhung von Sicherheitsmaßnahmen hier allzu leicht beruhigen, ohne dass es uns letztlich wirklich etwas kostet? Bei Lichte betrachtet kostet es allerdings nicht nur wenig, es bringt auch wenig, denn Sicherheit bleibt immer eine Scheinsicherheit, solange nicht an den Ursachen von Gewalt gearbeitet wird, sondern lediglich den Symptomen. Wer wirklich Schaden zufügen will, den kann man auf Dauer nicht stoppen, wichtig wäre also dazu beizutragen, dass möglichst wenige anderen schaden wollen.

Wenn wir uns angesichts der hier angedeuteten Folgen solchen Denkens moralisch weiterentwickeln wollen, und unseren narzisstischen und egozentrischen Standpunkt zumindest etwas verändern wollen, sollten wir uns nichts vormachen: jeder moralische Appell, ob er nun utilitaristisch oder deontologisch untermauert ist, wird auf Dauer ungehört verhallen, wenn er keinen Nutzen für die Adressaten selbst vermittelt. Nur die Bedürfnisse sind es, die uns Menschen zusammenführen. Was also haben wir davon, wenn wir mehr und langfristiger Ressourcen für eine Unterstützung gesunder, d.h. insbesondere demokratischer gesellschaftlicher Strukturen auch über Deutschland hinaus aufwenden? Wir würden dann auf Dauer gesehen Gewalt reduzieren und damit (auch deutsche) Opfer vermeiden helfen, denn demokratische Gesellschaftsformen haben das geringste Gewaltrisiko. Not und Wut, die Keimzellen des Terrors, der immer weiter auch in den Westen hineingetragen wird, würden verringert. Und wenn wir heute bedrohten Menschen wirklich helfen, wird man morgen unseren Kindern helfen, wenn diese bedroht werden.

Wie können wir zu einer neuen moralischen Einstellung gelangen? Moral ist menschen-, nicht naturgemacht, der Weg zu ihr geht über Vernunft und Gefühl. Wir dürfen uns vor möglichen Erkenntnissen über internationale Zusammenhänge von Gewalt nicht hinter der zunehmenden Komplexität der Welt verstecken, sondern sollten aktiv deutlich mehr Ressourcen in die Erforschung solcher Zusammenhänge investieren und uns der ohnehin bestehenden sozialen Realität auch bewusst werden. Mit den Enthauptungen von Unschuldigen möchte IS die ultimative Provokation des Westens erreichen, das Abschlagen des Kopfes symbolisiert die gewollte Zerstörung von Identität und Einheit von Körper und Geist. Wenn wir auf die Provokation eingehen, und Gegengewalt als einzige Antwort wählen, dann lassen wir zu, dass unsere mühsam aufgebaute westliche zivilisatorische Identität tatsächlich beschädigt wird. Das einzusehen, gehört auch zur Vernunft. Aber ein „Augen zu und durch“ kann auch nicht unsere Antwort sein, denn wir Menschen sind neben der Vernunft mit der Fähigkeit zum Mitgefühl ausgestattet. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker hat in seinem Werk „Gewalt“ dargelegt, dass sich diese Fähigkeit in erster Linie durch das Lernen von Lesen und Schreiben entwickelt hat. Durch das Lesen haben wir die Möglichkeit, die Welt durch die Augen des Schreibers zu sehen. Die so erworbene Fähigkeit zum Perspektivenwechsel lässt uns nun das über (Massen-)medien und Internet vermittelte weltweite Leid spüren. Wir können mehr tun, um dieses Leid zu verringern, und wir sollten mehr tun.

Die allgegenwärtig geforderte Konzentration auf das Hier und Jetzt mag also für den Einzelnen gut sein, auf gesellschaftlicher Ebene sollte das Bewusstsein reifen, dass mit „Hier“ nicht mehr nur Deutschland gemeint ist, und mit „Jetzt“ nicht mehr nur heute. Keinen Schaden anzurichten, reicht nicht mehr aus, um gut zu sein. Einem Deutschland, das Gutsein darauf reduziert, wird es selbst irgendwann an den Kragen gehen.

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