Als Jan-Josef Liefers zusammen mit rund 50 prominenten Kollegen in Online-Videos unter dem Motto #allesdichtmachen die deutsche Corona-Politik ironisch kritisierte, war die öffentliche Empörung nahezu einhellig. In inquisitorisch geführten Interviews musste sich der Schauspieler für die Aktion rechtfertigen, in Talkshows gegen drei oder vier andere Gäste antreten, die sich untereinander und mit der Moderation einig waren. Die mediale Front, die Zweifelnde weitgehend ausgrenzte, war erschreckend genug. Noch extremer war die Reaktion des SPD-Politikers und früheren nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers Garrelt Duin. Solche Leute dürften nicht länger beim Tatort mitspielen, das Engagement sei sofort zu beenden, verlangte das Mitglied des WDR
itspielen, das Engagement sei sofort zu beenden, verlangte das Mitglied des WDR-Rundfunkrates. Das ging selbst dem damaligen Ministerpräsidenten Armin Laschet zu weit. Liefers bekam seinen Vertrag verlängert, bis heute mimt er den skurrilen Münsteraner Rechtsmediziner Karl-Friedrich Börne.Berufsverbot wegen abweichender Ansichten: das klingt nach dem berüchtigten (übrigens ebenfalls von Sozialdemokraten eingeführten) „Radikalenerlass“. Es erinnert auch an den Fanatismus des erzkonservativen US-amerikanischen Senators Joseph McCarthy in den 1950er Jahren, als der gemeinsame Podiumsauftritt eines Hochschulprofessors mit einem Kommunisten genügte, um dessen berufliche Stellung zu gefährden. Gingen die Gesten der Empörung im Corona-Streit noch meist glimpflich aus, so hat sich das intolerante Diskussionsklima seit dem Überfall auf die Ukraine weiter verschärft – mit teils schwer wiegenden Folgen für die Betroffenen.Um ihren Job fürchten muss zum Beispiel Ulrike Guérot, die an der Universität Bonn Europapolitik lehrt. Früher CDU-Mitglied, stuft sie sich heute als „linksliberal“ ein, eckt aber gerade in diesem Milieu am meisten an. In einem umstrittenen (und am Schluss tatsächlich verschwörungstheoretisch anmutenden) Buch kritisiert sie die staatlichen Maßnahmen gegen die Pandemie. In ihrer letzten Publikation Endspiel Europa plädiert sie dafür, die Schuld für den Krieg nicht allein bei Russland zu suchen, sie bewertet die Erweiterung der NATO als Fehler und Provokation. In bürgerlichen Leitmedien wie der Frankfurter Allgemeinen und in Internetportalen wie t-online.de läuft seither eine regelrechte Kampagne gegen ihre Person. Osteuropa-Experten zweifeln die wissenschaftliche Kompetenz der Autorin an, die Leitung und der AStA der Bonner Uni haben sich distanziert.Richard David Precht und Harald Welzer hinterfragen die Rolle der MedienÄhnlich unter Druck geraten ist Gabriele Krone-Schmalz, die lange für die ARD aus Moskau berichtet hat und in journalistischen Kreisen als fundierte Kennerin Russlands gilt. Ein Vortrag von ihr an der Volkshochschule Reutlingen ging im Netz viral, der gastgebende VHS-Chef wurde ebenfalls heftig angegangen. Politikwissenschaftler und Historiker ergriffen Partei, sprachen Krone-Schmalz jede Fachkenntnis ab. Die Entspannungspolitik von Willy Brandt positiv zu bewerten, auf russische Sicherheitsinteressen und Ängste hinzuweisen oder diese gar in Verbindung zu bringen mit dem verbrecherischen Nazi-Überfall auf die Sowjetunion: Das grenzt in einer aufgeheizten Stimmung für manche schon an Landesverrat.Die Liste der öffentlich Abgekanzelten ist lang: Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer, die Ende April einen offenen Brief initiierte, der Kanzler Olaf Scholz gegen den Vorwurf des „Zauderns“ bei Waffenlieferungen in Schutz nahm. Die Autoren Richard David Precht und Harald Welzer, die in ihrem Bestseller Die vierte Gewalt nicht nur aus aktuellem Anlass die Rolle der Medien hinterfragen. Hamburgs Ex-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, der in seinem jüngsten Buch für die Verfolgung „nationaler Interessen“ und gegen eine zu starke Abhängigkeit von den USA Position bezieht. Und erst recht Altkanzler Gerhard Schröder, dem schon vor dem Krieg zu viel Nähe zum russischen Präsidenten und seine Rolle als Lobbyist für Gaskonzerne angekreidet wurden. Letzteres ist in der Tat äußerst fragwürdig. Schröder deshalb die früheren Amtsträgern zugesicherten Privilegien im Bundestag kurzerhand zu streichen, diese aber bei anderen einst politisch Verantwortlichen wie Angela Merkel oder Christian Wulff nicht anzutasten, dürfte juristisch kaum haltbar sein.Eine Debatte mit zwei MaßstäbenDie ungleiche Bewertung gleicher Tatbestände illustriert, wie mit zweierlei Maß gemessen wird, wie unbequeme politische Stimmen eingeschüchtert oder ganz zum Schweigen gebracht werden sollen. Objekte der Attacken sind dabei weniger notorische Dissidentinnen wie die als mediale Watschenfrau fungierende Linke Sahra Wagenknecht. Das Hauptziel der aktuellen Cancel Culture bilden eher sozialdemokratische Zirkel, die trotz Krieg nicht bereit sind, sich vom Erbe eines Egon Bahr zu verabschieden. Der Architekt der Ostpolitik hat sich stets für die Aussöhnung mit Russland eingesetzt, dabei viel erreicht und mittelbar auch zur deutschen Vereinigung beigetragen.Wesentlich beteiligt ist auch die ukrainische Propaganda. Selbst moderat auftretenden Politikern wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich wird in Kiew der Vorwurf gemacht, Desinformationen zu verbreiten. Der Dauertwitterer und mittlerweile abgesetzte, weil untragbar gewordene Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk überzog Andersdenkende über Monate mit polemischen Vorwürfen und verbalen Tiefschlägen. Zuletzt, obwohl schon in die Heimat zurückbeordert, traf der Zorn des Undiplomaten die Synode der Evangelischen Kirche, die er als „Diener von Judas“ bezeichnete. Die dort Versammelten hatten es gewagt, sich nicht eindeutig vom christlichen Pazifismus zu distanzieren. Sie regten einen Waffenstillstand an und forderten dazu auf, „das Gespräch nicht zu verachten“. Das reicht heutzutage, um sich den Vorwurf einzuhandeln, ein „Putintroll“ zu sein.